Der letzte Mensch. Mary Shelley. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mary Shelley
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159618371
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Zerstreuung von ihrem gewöhnlichen Zustand. Ihrer Ansichten in Bezug auf ihre eigenen Kinder wegen, erlegte sie sich in allen ihren Worten und Handlungen in Bezug auf sie Zurückhaltung auf. Aber Evadne war ein Spielzeug, das sie in keiner Weise fürchten musste; auch boten ihre Begabungen und ihre Lebhaftigkeit der Gräfin eine Abwechslung in der ewigen Gleichförmigkeit ihres Lebens.

      Evadne war achtzehn Jahre alt. Obschon sie viel Zeit gemeinsam in Windsor verbracht hatten, hatte die Jugend Adrians jeden Verdacht im Hinblick auf die Natur ihres Umgangs gehemmt. Doch sein überaus glühendes und zärtliches Herz hatte bereits gelernt zu lieben, während die schöne Griechin den Jüngling noch freundlich belächelte. Es war seltsam für mich, der ich, obschon älter als Adrian, noch nie geliebt hatte, Zeuge des ganz hingegebenen Herzens meines Freundes zu sein. Es lag weder Eifersucht, Unruhe noch Misstrauen in seinem Gefühl; es war Hingabe und Treue. Sein Leben wurde von der Existenz seiner Geliebten vereinnahmt, und sein Herz schlug nur im Einklang mit dem Takt, der das ihre belebte. Dies war das geheime Gesetz seines Lebens – er liebte und wurde wiedergeliebt. Das Universum war für ihn eine Wohnstatt, in der er mit seiner Auserwählten lebte, und kein vorgegebener Entwurf der Gesellschaft oder eine Verkettung von Ereignissen, die ihm Glück oder Elend vermitteln könnten. Und das, obwohl das Leben mit den Regeln des gesellschaftlichen Umgangs eine Wildnis, ein von Tigern heimgesuchter Dschungel war! Inmitten seiner Irrwege, in den Tiefen seiner wildesten Winkel, gab es einen begehbaren und blumenbekränzten Pfad, auf dem sie sicher und vergnügt wandeln könnten. Ihr Weg würde wie die Passage durch das Rote Meer sein, das sie trockenen Fußes durchqueren mochten, obschon eine Mauer der Zerstörung zu beiden Seiten drohte.

      Ach! Weshalb obliegt es mir, die unglückselige Verirrung dieses unvergleichlichen Exemplars der Menschheit aufzuzeichnen? Was liegt nur in unserer Natur, das uns immer wieder zu Schmerz und Elend drängt? Wir sind nicht zum Vergnügen geformt; und sosehr wir auch auf den Genuss angenehmer Empfindungen eingestimmt sein mögen, so ist doch die Enttäuschung der nie versagende Steuermann unserer Lebensbarke, der uns unbarmherzig in die Untiefen lenkt. Wer wäre besser als dieser begabte Jüngling dazu geeignet gewesen, zu lieben und wiedergeliebt zu werden und die grenzenlose Freude einer untadeligen Liebe zu ernten? Hätte sein Herz nur ein paar Jahre länger geschlafen, wäre er vielleicht verschont worden; doch es erwachte in seiner Jugend; es hatte Kraft, aber kein Wissen; und es wurde ebenso abgetötet, wie eine zu früh austreibende Knospe im beißenden Frost erfriert.

      Ich warf Evadne weder Heuchelei noch den Wunsch vor, ihren Verehrer zu täuschen; doch der erste Brief, den ich von ihr sah, überzeugte mich, dass sie ihn nicht liebte. Er war mit Eleganz geschrieben und dafür, dass sie eine Ausländerin war, mit einem guten Sprachvermögen. Die Handschrift selbst war ausgesprochen schön, es war etwas in jenem Papier und in seinen Falten, das sogar ich, der ich nicht liebte und in solchen Dingen unerfahren war, als geschmackvoll erkennen konnte. Es lag viel Freundlichkeit, Dankbarkeit und Anmut in ihrem Ausdruck, aber keine Liebe. Evadne war zwei Jahre älter als Adrian – und wer liebte jemals mit achtzehn einen so viel Jüngeren? Ich verglich ihre milden Briefe mit den flammenden Adrians. Seine Seele schien sich in die Worte zu verwandeln, die er schrieb, und sie atmeten auf dem Papier und übertrugen einen Teil des liebeserfüllten Inneren, das sein Leben war. Das bloße Schreiben genügte bereits, um ihn zu erschöpfen, und er vergoss wegen der Überfülle von Gefühlen, die es in seinem Herzen erweckte, Tränen darüber.

      Adrians Seele spiegelte sich in seinem Antlitz wider, und Verschleierung oder Täuschung standen der furchtlosen Offenheit seiner Natur entgegen. Evadne bat ihn ernstlich darum, dass die Geschichte ihrer Liebe nicht seiner Mutter offenbart werden möge; und nachdem er eine Weile mit sich gerungen hatte, gab er ihrem Wunsch nach. Ein eitles Zugeständnis, denn sein Verhalten verriet sein Geheimnis bald den scharfen Augen der einstigen Königin. Mit derselben Vorsicht, die ihr ganzes Verhalten kennzeichnete, verbarg sie ihre Entdeckung, beeilte sich jedoch, ihren Sohn aus der Umgebung der schönen Griechin zu entfernen. Er wurde nach Cumberland geschickt, doch der von Evadne erdachte Plan der Korrespondenz zwischen den Liebenden wurde wirksam vor ihr verborgen. So verband die zum Zwecke der Trennung veranlasste Abwesenheit Adrians sie fester als je zuvor. Zu mir sprach er unaufhörlich von seiner geliebten Griechin. Ihr Heimatland, seine alte Geschichte, seine jüngeren denkwürdigen Kämpfe existierten nur, um an ihrem Ruhm und ihrer Größe teilzuhaben. Er fügte sich darein, von ihr entfernt zu sein, weil sie diese Unterwerfung von ihm verlangte; doch ohne ihre Beeinflussung hätte er seine Zuneigung vor ganz England erklärt und sich mit unerschütterlicher Festigkeit dem Widerstand seiner Mutter entgegengestellt. Evadnes weibliche Klugheit merkte wohl, wie nutzlos jede Behauptung seiner Entschlusskraft sein würde, ehe zusätzliche Jahre seiner Macht mehr Gewicht verliehen. Vielleicht hegte sie außerdem eine gewisse Abneigung, sich vor aller Welt an jemanden zu binden, den sie nicht liebte – zumindest nicht mit jener leidenschaftlichen Begeisterung liebte, die sie, wie ihr Herz ihr versprach, eines Tages einem anderen gegenüber empfinden könnte. Er befolgte ihre Anordnungen und verbrachte ein Jahr im Exil in Cumberland.

      Kapitel 3

      Glück, dreifaches Glück, brachten die Monate, Wochen und Stunden jenes Jahres. Freundschaft, Hand in Hand mit Bewunderung, Zärtlichkeit und Respekt, erbaute eine Laube der Freude in meinem Herzen, das unlängst noch roh wie eine unbetretene Wildnis in Amerika, wie der heimatlose Wind oder das öde Meer gewesen war. Unersättlicher Wissensdurst und grenzenlose Zuneigung zu Adrian vereinten sich, um mein Herz und meinen Verstand zu beschäftigen, und ich war durchaus glücklich. Welches Glück ist so rein und ungetrübt, wie das überschwängliche und redselige Entzücken junger Menschen? In unserem Boot auf meinem heimatlichen See, neben den Bächen und den blassen Pappeln am Ufer, im Tal und über dem Hügel – meinen Hirtenstab beiseitegeworfen, da ich eine edlere Herde zu hüten hatte als törichte Schafe: eine Herde neugeborener Ideen – las ich oder lauschte Adrian; und seine Worte, ob sie seine Liebe oder seine Theorien für die Verbesserung des Menschen betrafen, verzauberten mich gleichermaßen. Zuweilen kehrte meine gesetzlose Stimmung zurück, meine Liebe zur Gefahr, mein Widerstand gegen die Autorität; aber das geschah in seiner Abwesenheit; unter dem milden Einfluss seiner freundlichen Augen war ich gehorsam und brav wie ein fünfjähriger Knabe, der die Gebote seiner Mutter erfüllt.

      Nachdem er sich etwa ein Jahr am Ullswater aufgehalten hatte, besuchte Adrian London und kam voller Pläne für uns zurück. »Du musst das Leben beginnen«, sagte er. »Du bist siebzehn, und eine längere Verzögerung würde die notwendige Ausbildung immer verdrießlicher machen.« Er sah voraus, dass sein eigenes Leben mühevoll sein würde und ich seine Anstrengungen mit ihm teilen müsste. Um mich besser tauglich zu dieser Aufgabe zu machen, müssten wir uns nun trennen. Er fand heraus, dass ich durch meinen Namen bevorzugt wurde, und hatte mir die Stelle eines Privatsekretärs beim Botschafter in Wien besorgt, wo ich unter besten Bedingungen meine Laufbahn beginnen sollte. In zwei Jahren sollte ich mit einem bekannten Namen und einem guten Ruf in mein Land zurückkehren.

      Und Perdita? – Perdita sollte die Schülerin, Freundin und jüngere Schwester von Evadne werden. Mit seiner üblichen Bedachtsamkeit hatte er in dieser Lage für ihre Unabhängigkeit gesorgt. Wie hätte ich die Angebote dieses großzügigen Freundes abschlagen können? – Ich wollte sie nicht ablehnen; doch in meinem innersten Herzen legte ich das Gelübde ab, mein Leben, mein Wissen und meine Kraft – alles, was davon von irgendeinem Wert war, hatte er mir geschenkt – alles, all meine Fähigkeiten und Hoffnungen, ihm allein zu widmen.

      Dieses Versprechen gab ich mir selbst, als ich mit geweckter feuriger Erwartung auf mein Ziel zusteuerte: Erwartung der Erfüllung all dessen, was wir uns in jungen Jahren an Macht und Vergnügen in der Reife versprechen. Mich dünkte, dass nun die Zeit gekommen sei, in welcher ich, aller kindlichen Beschäftigungen entledigt, ins Leben eintreten sollte. Selbst auf den elysischen Feldern, schreibt Vergil, dürsteten die Seelen der Glücklichen danach, von den Wassern zu trinken, die ihre sterbliche Hülle wiederherstellen sollten. Die Jungen sind selten im Elysium, denn ihre Begierden, die alles Mögliche überflügeln, lassen sie so arm wie einen mittellosen Schuldner zurück. Wir werden von den weisesten Philosophen über die Gefahren der Welt, die Täuschungen der Menschen und den Verrat unserer eigenen Herzen unterrichtet. Doch nicht weniger furchtlos legt jeder mit seiner zerbrechlichen Barke vom Hafen ab, hisst das Segel und legt sich ins Ruder, um in die mannigfaltigen Strömungen im Ozean