»Wollen Sie mir weismachen, hier habe der Garten Eden gelegen?« Ich bemühte mich gar nicht erst, meiner Stimme einen Ausdruck zu verleihen, als würde ich van de Dageraad ernst nehmen. »In Brabant?«
»Nicht der Garten, Herr Simmonis. Ein Garten. Es existierte nicht nur ein einziges Paradies. Und keinesfalls auch nur zu einer einzigen Zeit. Das hier ist nicht die erste Menschheit. Und es wird beileibe nicht die letzte bleiben. In den Hunderten von Millionen Jahren, in denen Leben auf diesem Planeten existiert, gab es viele Edengärten. Jeder von ihnen hatte seinen lauteren Lebensquell, seinen leuchtenden Baum der Erkenntnis, einen Hain schamloser Lebensfreude, den Nimbus der Harmonie allen Seins – und seinen Uterus der Sünde, an dessen Ufern stets Zwielicht herrscht. Die Malebolgen mögen vielleicht nicht der Anfang des göttlichen Plans gewesen sein, aber sie sind stets das Ende.«
»Und welche Rolle spielen Sie in diesem sogenannten ›Plan‹?«
»Ich führe Buch über jede Ausgeburt, die dem Zwielicht entsteigt.« Van de Dageraad wandte sich zu mir um. »Ich gebe ihr den Namen und die Form und weise ihr den Weg zu dem menschlichen Ungeist, der sie ersonnen hat.« Er deutete in die Tiefe. »Sehen Sie!«
Ich blickte hinab auf den Schlammtümpel. Von den Stangen der Vermummten ans Ufer dirigiert, begann ein amorphes Ding aus dem Wasser zu kriechen, das aussah wie eine riesige, mit rudimentären Gliedmaßen ausgestattete Molluske. Und es war beileibe nicht das erste seiner Art. Unter dem Dunstschleier kaum von den rundgeschliffenen, pechbedeckten Uferfelsen zu unterscheiden, entdeckte ich vier oder fünf weitere dieser Kreaturen, welche wie Föten zusammengerollt reglos am Ufer lagen.
Entgeistert musterte ich den Antiquar. »Sie sind der Bylar aus Aleyds Briefen …«
Mein Gegenüber deutete eine Verbeugung an. »Bel Arion, um korrekt zu sein.«
»Aber – das war vor fünfhundert Jahren!«
»Fünfhundertfünfzehn.« Van de Dageraad hob lauernd seinen Pinguinkopf. »Ich erlaube Ihnen dieses eine Mal, meinen Namen laut auszusprechen, Herr Simmonis. An diesem unheiligen Ort und zu dieser unheiligen Stunde. Tun Sie es ein zweites Mal, egal wie, wo, wem gegenüber oder wann, werde ich Ihre Zunge kürzen. Tun Sie es ein weiteres Mal, werde ich dafür sorgen, dass Ihnen wie dem bedauernswerten Melchior die Augen in den Höhlen verfaulen oder jede noch so köstliche Speise, die Sie zu sich nehmen, nach warmem menschlichem Kot und jeder Trank nach Urin schmecken wird.«
Er erwiderte meinen Blick, wobei er zu ergründen schien, ob ich ihn beim Wort nahm oder alles für einen schlechten Scherz hielt. »Nichts für ungut«, fügte er schließlich hinzu. »Morgen schon werden Sie kaum noch einen Gedanken daran verschwenden. Kommen Sie, ich möchte Sie einer alten Freundin vorstellen.« Van de Dageraad ging an mir vorbei und betrat den abwärtsführenden Steg. »Können Sie zufällig mit Pinsel und Farbe oder mit spitzer Feder umgehen?«, fragte er und sah über seine Schulter. Ich trottete ihm nach, wobei ich den Kopf schüttelte, um den verdammten Nebel aus meinem Verstand zu kriegen. »Keine Sorge, Sie werden es lernen«, fügte der Antiquar hinzu, als ich nicht antwortete. »Nun, da Sie ein Zeuge sind …«
Ich fühlte, wie die stinkenden Schwaden zusehends meine Sinne betäubten. »Ein Zeuge?«, wiederholte ich mit schwerer Zunge. »Wovon?«
»Der Dämmerung, Herr Simmonis. Des Zwielichts. Der Schattenwelt.« Er blieb stehen und wandte sich um. »Und natürlich ein Zeuge meiner Existenz.«
Ich kann nicht genau beschreiben, was er im nächsten Moment tat, als er wie in festlicher Euphorie die Arme hob. Es sah aus, als würde er mit beiden Händen über sich greifen, um die vermeintliche Wirklichkeit zu packen und sie wie eine dünne Stoffkulisse vor sich niederzureißen. Was im nächsten Augenblick vor mir stand, hatte mit einem Menschen kaum noch etwas gemein. Und doch glaubte ich ein Abbild dieser in einen Kapuzenumhang gekleideten Kreatur schon einmal gesehen zu haben: auf der Paradiestafel des Lustgarten-Altargemäldes, das Bosch für den Grafen von Nassau angefertigt hatte. Aber die seinem Kopf entwachsende Anomalie war keinesfalls eine Pestmaske oder gar ein langer Schnabel, wie Aleyd dereinst beim Betrachten des halb fertigen Bildes gemutmaßt hatte. Und auch ihr Unvermögen, des Nachts im Grachthof das Gesicht des Fremden zu erkennen, hatte nicht an der Dunkelheit gelegen – es gab schlichtweg keines. Aus der amorphen Schwärze unter der Kapuze ragte ein Paar armlanger, dornenbewehrter Fangzangen, die aussahen, als könnten sie einem Menschen mühelos den Kopf abtrennen.
»Was sind Sie?«, presste ich entsetzt hervor.
»Der Herr der dunklen Musen«, antwortete die Kreatur, wobei die monströsen Mandibeln sich im Rhythmus der Worte öffneten und schlossen. »Betrachten Sie meinen weltlichen Namen als Allegorie meines wahren Ichs – sofern Sie ihn zu deuten wissen.«
Ich wollte herumwirbeln, um diesem Albtraum zu entfliehen, aber meine Beine gehorchten mir nicht. Was auch immer dampfend aus der Tiefe des Pfuhls emporquoll, betäubte meinen Verstand. Der graue Dunst, den ich einatmete, lähmte meinen Geist, erstickte jeglichen Widerstand und machte mich auf erschütternde Weise gefügig. Es fiel mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn mich verständlich zu artikulieren.
»Was wollen Sie von mir?«, brachte ich Wort für Wort mühsam über die Lippen.
»Nicht mehr als auch Gott von Ihnen verlangen würde: Hingabe. Ergebenheit. Selbstaufopferung, so heißt es, ist das Wunder, dem alle anderen Wunder entspringen. Also werden Sie ab heute tun, was seit dem Vergehen des letzten Edengartens ein jeder treue Zeuge bis heute tut: die Menschen daran erinnern, wie gut sie es einst hatten – und vom ewigen und unabwendbaren Scheitern jedes irdischen Paradieses auf Erden zeugen.« Er ergriff meine Arme, hob sie an und presste sie gegeneinander. »Nun lassen Sie mich Ihre Hände segnen …« Dann schnappten seine Fangzangen zu und trieben ihre Dornen tief in mein Fleisch.
Obwohl der Schmerz überwältigend war, drang nicht der leiseste Wehlaut aus meiner Kehle. Ich fühlte, wie etwas Heißes in meine Adern strömte und sich in meinem Körper auszubreiten begann.
»Du wirst Melchiors Platz einnehmen, Jakob«, drang van de Dageraads Stimme wie aus weiter Ferne zu mir durch. »Es ist eine Tugend, seinem Leben neuen Sinn zu verleihen, um einem höheren, wahrhaftigeren Ziel zu dienen. Heute bist du noch voll der Furcht und Schmerzen, doch schon morgen wird deine Angst der Erleuchtung und einem nie gekannten Schaffensdrang gewichen sein.« Er wandte sich um und setzte seinen Weg fort. »Mit der Morgenröte, Jakob«, hörte ich ihn sagen. »Mit der Morgenröte …«
Während ich der bizarren Kreatur willenlos hinterhertrottete, trafen wir auf nackte, pechverschmierte Gestalten, die apathisch auf dem Steg kauerten und an Zahl zunahmen, je tiefer wir hinabgelangten. Als sie uns kommen sahen, begannen sie sich zu regen. Manch ein Gebaren wirkte auf mich, als würden sie sich stumm bedanken, während andere aussahen, als flehten sie gestenreich um Gnade oder Erlösung. Einige versuchten gar zu sprechen, doch statt verständlicher Worte strömte aus ihren Mündern nur ein Schwall aus stinkendem schwarzem Schlamm.
Van de Dageraad ließ sich zu keiner Reaktion herab, sondern schritt an ihnen vorbei oder über sie hinweg, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Am unteren Ende des Gerüstes angelangt gebot er mir stehen zu bleiben und blickte über seinen Sündenpfuhl.
»Aleyd!«, rief er, woraufhin eine der vermummten Gestalten auf den Stegen sich langsam umwandte und zu uns herüberblickte. »Sieh, du hast einen neuen Schüler!«
EINE MORITAT AUS WOLKEN UND DUNKELHEIT
Ein Schattenmärchen 2
And the sky is filled with light.
Can you see it?
All the black is really white.
If you believe it.
NINE INCH NAILS, In This Twilight
Seid gegrüßt, Kinder. Habt ihr mich vermisst?
Keine