»Und wie endete die Geschichte?«
Mein Gegenüber hob den Blick. »Nun, ein Ende ist gewissermaßen immer auch ein Anfang«, erklärte er. »Das Ende dieses Briefes jedenfalls war ein Zeugnis, in dem streng gehütete Namen fielen und lästerliche Wahrheiten ausgesprochen wurden. Zu vieles von beidem, um ehrlich zu sein.«
»Dann hat also nie ein dreizehnter Brief existiert?«
»Nur das Ende jenes Berichts, dessen Sie so befremdenden Großteil Sie gelesen haben«, bestätigte van de Dageraad.
Wir taxierten uns wie rivalisierende Giftschlangen. »Sie waren es!«, dämmerte es mir. »Sie selbst haben die fehlenden Seiten herausgerissen!«
Der Antiquar schnitt eine Grimasse. »Herausreißen ist ein sehr unschönes Wort, Herr Simmonis«, erklärte er mit leicht tadelndem Unterton. »Sagen wir, ich habe sie der Geschichte entnommen. Aber …« Er klappte das Buch zu und musterte mich. »… ich habe Ihnen gleichermaßen versprochen, besagtes Ende zu erfahren, sofern Sie mir mein Eigentum wohlbehalten zurückbringen. Und das haben Sie, was ich Ihnen hoch anrechne.« Er verstaute das Epistolarium dort, wo er es fünf Tage zuvor entnommen hatte, dann erhob er sich mit einem leisen Seufzen. »Wenn ich Sie bitten dürfte, mir zu folgen.«
»Folgen?«, echote ich. »Wieso lesen Sie mir die restlichen Seiten nicht einfach vor?«
»Weil ich sie damals verbrannt habe.« Van de Dageraad trat hinter seinem Refugium hervor und schlurfte zu einem Wandregal.
Ich sah ihm ungläubig nach. »Was heißt damals?«
»Anno 1813. Kommen Sie nun oder nicht?«
»Wohin?«
»Wie ich bereits sagte: Ich halte das, was sich dem Verstand unvermittelt erschließt, für die reinste Inkarnation des Göttlichen. Und was das Auge sieht, glaubt bekanntlich das Herz.«
Als van de Dageraad den vor dem Regal liegenden Läufer mit dem Fuß beiseiteschob, verrieten die Schleifspuren auf dem Holzboden, dass das Möbelstück etwas Besonderes vor den Augen der Laufkundschaft schützen musste. Ich erwartete ein Schmuckseparee oder einen Wandtresor zu erblicken und war enttäuscht, als sich dahinter keine massive Stahltür verbarg, sondern eine sehr alte, ungewöhnlich schmale Holzpforte. Der mit vier rostigen Riegeln gesicherte Zugang sah aus, als läge dahinter ein uralter Abort oder allenfalls eine Besenkammer. Durch seine Ritzen strömte just jener ekelerregend-penetrante Gestank, den ich bei meinem ersten Besuch wahrgenommen hatte.
»Was bedeutet Sachar Neshamar?«, fragte ich, als der Antiquar zuerst den dritten der vier Schließriegel öffnete.
Van de Dageraad hielt für einen Moment in der Bewegung inne. »Das fragen Sie jetzt?« Er schob kopfschüttelnd den obersten Riegel auf, dann den zweiten und schließlich den untersten. »Es ist das hebräische Wort für einen Pakt«, erklärte er. »Frei übersetzt bedeutet es ›Seelenhandel‹. Ein solcher wie der unsere wird für gewöhnlich mit Blut besiegelt.«
»Ich habe nichts dergleichen besiegelt«, stellte ich klar. »Schon gar nicht mit Blut.«
»Nun, zumindest nicht mit dem Ihren …«
Ehe ich fähig war, darauf zu reagieren, zog er die Tür mit einem Ruck auf. Der Gestank, der mir entgegenschlug, raubte mir schier den Atem – und jeden Gedanken an das zuvor Gehörte und Gesagte. Hinter der Tür führte eine gemauerte Wendeltreppe in die Tiefe, die der Händler sich ohne zu zögern anschickte hinabzusteigen.
»Kommen Sie«, klang seine Stimme dumpf herauf, als das Dunkel ihn verschluckt hatte.
Meine Befürchtung, dass der Weg in einer historischen Klärgrube endete, ließ mich zögern. Schließlich zog ich mein Smartphone aus der Manteltasche und folgte dem Antiquar im Licht des Displays, wobei ich darauf achtete, den feucht glänzenden Wänden nicht zu nahe zu kommen.
Die Treppe musste sich im Verborgenen durch das Parterre des Hauses bis ins Untergeschoss winden, wo sie in einem kurzen gemauerten Korridor endete. Eine rustikale Flügeltür versperrte nach wenigen Metern den Weg. Der herrschende Gestank ließ mich befürchten, dass ein einziger Funke zu einer Explosion führen könnte, die den gesamten Häuserblock in Schutt und Asche legte.
»Die menschliche Geburt ist ein Prozess aus Blut, Schleim, Schmerz und dem Odeur eures tiefsten fleischlichen Innern«, sagte van de Dageraad, dem der Gestank offensichtlich nicht im Geringsten auf die Sinne schlug. »Jedem Fötus haftet der Duft des Schoßes an, aus dem er geboren wird – und jeder zutiefst verwerflichen Ausgeburt menschlicher Phantasie der Geruch von Sünde, Laster und Niederträchtigkeit in ihrer reinsten, archaischsten Form.«
Dann stemmte er sich gegen die Türflügel und drückte sie auf. Die warme Dunstwolke, die in den Korridor quoll, war apokalyptisch. Hinter dem Portal herrschte jedoch keinesfalls Finsternis, und auch meine Befürchtung, eine offene Flamme könnte jederzeit ein Gemisch aus Methan und Faulgasen entzünden, erwies sich als unbegründet.
Jenseits der Pforte öffnete sich ein gut vier Stockwerke hoher, fast kreisrunder Felsenkessel, der aussah wie das Innere einer Festungsrotunde. Er maß etwa zwanzig Meter im Durchmesser und reichte unterhalb der balkonartigen Konstruktion, auf der wir standen, weitere zehn bis zwölf Meter in die Tiefe bis zu einem schlammigen Tümpel, der zweifellos die Quelle des abscheulichen Gestanks war. Überwältigt vom Fäulnisgeruch und dem Anblick des Beckens wähnte ich mich in einer altertümlichen Gerberei, deren Betreiber nach Verwesung stinkende Tierhäute noch in einer Lohbrühe aus altem Urin, Kot und Alaun bleichten. Entlang der Kesselwand führte ein aus Planken, Bohlen und Stützpfeilern gefertigtes Gerüst in einer weiten Spirale hinab zu einem den Pfuhl umschließenden Rundsteg. Er war so schwarz, als hätte ein Feuer das Holz verkohlt. Vom Ufer aus ragten vier weitere Stege in die Mitte des Tümpels, wo ein zäher, dampfender Sud aus der Tiefe emporquoll.
An der gegenüberliegenden Seite der Halle war ein großes, geschlossenes Metalltor in die Wand eingelassen. Es glich einem Schleusenportal und schien mit einem Mechanismus aus Handwinden und massiven Zahnrädern auf und ab bewegt werden zu können. Obwohl ich es zum ersten Mal sah, war es mehr als nur eine Vermutung, dass es jene tunnelartige Passage verschloss, welche den Grachthof mit dem einst hinter der Stadtmauer gelegenen Diezekanal verband.
Fraglos blickte ich auf jenen Ort hinab, an dem sich Aleyd van de Mervennes Schicksal erfüllt hatte. Aber nichts war mehr so, wie es in ihren Briefen geschrieben stand. Das Zentrum des einstigen Grachthofs war im Laufe der Jahrhunderte in Form eines primitiven Kolosseums ummauert und von den benachbarten Gebäuden getrennt worden. Obwohl ich nur schätzen konnte, wie tief die Wendeltreppe in das Fundament des Hauses hinabgeführt hatte, musste der dampfende Pfuhl am Grund der Rotunde weit unterhalb des heutigen Wasserspiegels liegen. Dort herrschte im Schein zahlloser Pechfackeln ein seltsames Treiben, das sich am treffendsten mit ›phlegmatischer Betriebsamkeit‹ beschreiben ließ. Auf den Stegen verteilt standen mehr als ein Dutzend vermummter, gedrungener Gestalten, die ihre Gesichter mit Lumpen, Tüchern und altertümlichen Fliegerbrillen vor den Ausdünstungen zu schützen versuchten. Ohne van de Dageraad oder mich eines Blickes zu würdigen, rührten und stocherten sie mit langen Stangen in der sämigen Brühe. Andere waren unentwegt damit beschäftigt, die erstarrte schwarze Kruste vom Holz der Stege zu kratzen und in den Tümpel zurückzuwerfen. Ab und an glaubte ich für einen Augenblick Dinge aus der wallenden Masse ragen zu sehen, die aussahen wie Brust- oder Rückenflossen, warzenbedeckte Buckel oder gar schwarze, rudimentäre Hände mit drei oder vier plumpen, stummelartigen Fingern.
»Was um Gottes willen ist das?«, stieß ich angewidert hervor, als ich die Sprache wiedergefunden hatte.
Van de Dageraad schnaubte abfällig durch die Nase. »Ginge es nach Gott, würde dieser Ort gar nicht mehr existieren …« Er trat ans Geländer und breitete die Arme aus. »Das, Herr Simmonis, ist alles, was von der Pracht Edens übrig geblieben ist.«
»Eden?«, wiederholte ich mit schwerer Zunge. Die Dämpfe, die den riesigen Kessel schwängerten, wirkten auf fast schon widerwärtige Art berauschend und begannen meinen Verstand zu vernebeln.
»Nicht gerade