Ich habe ein schlechtes Gewissen dabei, Jeromes Zustand auszunutzen, und daher die Haushälterin gebeten, sich um ihn zu kümmern, aber ihn auf keinen Fall im Atelier arbeiten oder gar das Haus verlassen zu lassen.
24. November 1503
Liebe Elya, ich bin wohlbehalten aus dem Fischerviertel zurück, obgleich meine Sinne unter den dort herrschenden Verhältnissen reichlich gelitten hatten. Wo der Nachtwächter seinen Worten zufolge Jerome des Nachts aus den Augen verloren hatte, liegt verborgen hinter einem Abschnitt der Stadtmauer ein heruntergekommener, von Ruinen umgebener Grachthof, in dessen Nähe mir schauderte. Mit dem Kanal verbunden ist das gut zwanzig Meter im Karree messende Areal durch einen unter der Mauer und den angrenzenden Häusern verlaufenden Tunnel, gerade einmal breit genug, um ihn mit einem Kahn zu durchfahren. Im Brackwasser dahinter treiben Tierkadaver, deren Gestank einem den Atem verschlägt.
Während ich mich angewidert in dem Geviert umsah, kam es mir vor, als hätten Fäulnis und Verwesung sogar das Fundament der Häuser befallen, um sich an den Fassaden emporzufressen. Vom Wasser führen schmale, geländerlose Stiegen hinauf zu Türen, die seit Jahrzehnten nicht mehr geöffnet worden sein dürften. Die Läden aller Fenster von den Hochparterres bis hinauf unter die Dächer sind geschlossen, leere Fensterhöhlen mit Brettern und Latten vernagelt.
Nach meinem Besuch dieser Kloake bin ich sicher, dort die gleiche Fäulnis gerochen zu haben, wie sie jüngst Jeromes Kleidung angehaftet hatte. Was um alles in der Welt hatte er zu vorgerückter Stunde dort verloren gehabt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es etwas mit der Bruderschaft zu tun hat. Der Orden würde sich nie und nimmer dazu herablassen, sich an diesem unwürdigen Ort zu treffen. Was also geschieht dort nach Einbruch der Dunkelheit, das Jerome verleitete, immer wieder diesen schauderhaften Pfuhl aufzusuchen? Wonach sucht er – oder was hat er gefunden, das ihn Nacht für Nacht zu sich lockt?
27. November 1503
Ich habe mich entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, solange Jerome noch das Bett hüten muss – und ich werde es allein tun. Heute Nacht. Schelte mich eine Närrin, Elya, doch sorge dich nicht. Ich weiß auf mich aufzupassen.
28. November 1503
Liebe Elya, ich bin wie durch ein Wunder wohlauf, aber mein Glaube und mein Weltbild sind in ihren Grundfesten erschüttert. Ich kann die Feder nicht halten, ohne dass meine Finger zittern. Vielleicht hätte ich nach dem Vorfall in der Passage umkehren sollen. Dann würde ich jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, im Innern sicherlich nicht noch immer vor Grausen beben.
Die nächtliche Fahrt auf dem Kanal war ruhig und ohne Aufsehen verlaufen, bis ich den Eingang des Tunnels passiert hatte. Da ich im Inneren darauf achtete, mit dem Stakholz nicht an die Decke zu stoßen, war mein Blick nach hinten gerichtet, bis aus Richtung des Grachthofes unvermittelt ein Rauschen erklang. Mit Schrecken erkannte ich ein dunkles Etwas, das unter Wasser auf mich zuschoss und dabei eine Stoßwelle vor sich hertrieb. Ich vermochte es gerade noch, mich mit einer freien Hand an die Bootswand zu klammern, ehe es unter dem Kahn hindurchglitt. Mit Wucht hob es ihn an, sodass ich gezwungen war, mich zu ducken, um nicht mit dem Kopf gegen die Decke des Tunnels zu stoßen. Ich vernahm unter dem Rumpf ein kurzes, lautes Schaben, dann war dieses Ding unter dem Kahn hindurchgetaucht. Dabei zog es eine Spur aus Blasen hinter sich her, welche die ohnehin übel riechende Luft im Tunnel nach dem Platzen mit einem abscheulichen Gestank schwängerten.
Als mein Schreck sich so weit gelegt hatte, dass ich das Stakholz wieder mit fester Hand zu führen vermochte, drang ich nach kurzem Zögern weiter bis in den Grachthof vor. Heute weiß ich, dass ich hätte kehrtmachen sollen, statt verbissen an meinem Vorhaben festzuhalten. Aber mein verhängnisvollster Fehler in dieser Nacht war nicht der Eigensinnigkeit oder gar der Dummheit geschuldet, sondern der Unwissenheit. So erreichte ich zwar wohlbehalten jene nahe der Tunnelmündung gelegene, in einer kleinen Nische des Hofs versteckte Treppe, die ich mir für mein Vorhaben ausgesucht hatte. Doch wurde mir eine Begebenheit zum Verhängnis, die mir bei meinem ersten Besuch nicht aufgefallen war: Das Wasser des Grachthofs befand sich in unmerklichem, aber beständigem Fluss, fast so, als würde es aus der Tiefe von einer Quelle gespeist. Sie war zu schwach, um die Oberfläche in Wallung zu versetzen, aber ausreichend, um für eine sanft zirkulierende Strömung zu sorgen. Ein Born, bei dem es sich angesichts des herrschenden Gestanks jedoch nie und nimmer um einen natürlichen Zustrom handeln konnte.
So ließ ich den Kahn, nachdem ich ausgestiegen war, für einen Moment ungesichert am Treppenfuß treiben. Meine Aufmerksamkeit galt ganz den Stufen, um im Dunkel nicht auszugleiten und mir die Knochen zu brechen. Dabei sah ich nicht, dass das Boot samt Stakholz schon lautlos abtrieb. Als ich mein Missgeschick bemerkte und nach dem Kahn greifen wollte, war er bereits außer Reichweite. Dabei hätte ich auf dem schmierigen Treppenabsatz sogar fast noch den Halt verloren. Hilflos musste ich mit ansehen, wie mein Kahn auf das Mundloch des Tunnels zutrieb, an der Mauerkante von der Strömung gedreht wurde und letztlich im Dunkel verschwand.
War Jerome vergangene Woche womöglich just dieses Malheur ebenfalls passiert? Ein missglückter Versuch, das seinige Boot am Abtreiben zu hindern, wobei er ausgerutscht und in diese Kloake gefallen war? Oder hatte er sich aus freien Stücken ins Brackwasser begeben, um ihm hinterherzuschwimmen?
Letzteres würde meine einzige Möglichkeit sein, diesem Ort zu entfliehen, falls die kommenden Geschehnisse mich dazu nötigen sollten. Doch ängstigte mich dabei der Gedanke an das unbekannte, aber zweifellos lebendige Ding, das den Kahn im Tunnel emporgehoben hatte. Wer konnte garantieren, dass ein zweites davon mir nicht sofort folgen würde? Es hätte mich in der engen Passage im Nu eingeholt …
Verdrossen kauerte ich mich auf halber Höhe der Treppe zusammen, versuchte so wenig helle Haut wie möglich unter meiner Kleidung hervorschauen zu lassen und harrte der Dinge, die da wohl oder übel kamen. Erst jetzt fiel mir auf, dass einige der Fensterläden nun geöffnet waren. Obwohl das Mondlicht den Hof erhellte, war jedoch nicht zu erkennen, ob sich im dahinter liegenden Dunkel der Räume jemand verborgen hielt und Zeuge meiner vermeintlich heimlichen Ankunft gewesen war.
Ich hatte noch keine zehn Minuten in meinem Versteck verbracht, da ließ mich ein leises Sprudeln aufhorchen. Vor der Zwillingstreppe an der Stirnseite des Hofes begann das Wasser zu kochen und ließ hellen Blasenschaum aufsteigen. Zumindest so lange, bis ein zäher, schwarzer, morastiger Brei emporzuquellen begann, dessen Pestilenz mich bald würgen ließ. Den Stoff meines Kleides vor Mund und Nase gepresst, verfolgte ich gebannt das Geschehen. Aus dem brodelnden Modder tauchte etwas Schauerliches auf, von dem ich zuerst glaubte, es wäre ein uralter, von sechs dicken Ästen umgebener Baumstumpf – bis das finstere Ding in der Mitte unerwartet eine Regung zeigte und sich aus seiner Kauerstellung erhob!
Meine liebe Elya, ich wünschte aus tiefster Seele, alles, was sich vor meinen Augen abspielte, wäre nur ein Produkt der Faulgase, die meinen Verstand vernebelten – aber dem war nicht so. Was ich im Mondlicht für totes, schlicktriefendes Holz gehalten hatte, war eine mönchsartig verhüllte Gestalt – und das Gebilde, auf dem sie kauerte, beileibe kein abgestorbener Baum, sondern der Handteller einer riesigen sechsfingrigen schwarzen Klaue, die den Vermummten auf den zentralen Treppenabsatz emporhob. Während sich zwischen den mächtigen Fingern Ströme der schwarzen Brühe zurück ins Wasser ergossen, wirkte das Ding, das sich in ihrer Mitte tragen ließ, in keiner Weise davon benetzt. In seinen Armen barg es einen Gegenstand, der aus der Ferne wie eine Steintafel oder eine mächtige Fibel aussah.
Nahezu gänzlich von einem Umhang verhüllt, trat die Gestalt auf den obersten Treppenabsatz, wo sie wie in tiefer Andacht verharrte. Unter der bis tief in die Stirn gezogenen Kapuze vermochte ich kaum ein Gesicht zu erkennen, nur ein seltsames längliches Gebilde, das wie ein Schnabel daraus hervorragte.
Ich weiß nicht, was mich letztlich in meinem Versteck verraten hatte. Vielleicht hatte ich unbewusst einen Laut des Entsetzens von mir gegeben, oder es war in der Kälte der Nacht mein Atem gewesen, der als Wolke im Mondlicht zu sehen gewesen war. Denn während ich die unheimliche Gestalt auf der Treppe