Nachdem ich ihm rasch zurück ins Treppenhaus gefolgt war, erschaute ich im Halbdunkel ein unförmiges schwarzes Etwas, das auf einer Vielzahl von Armen und Beinen die Stufen hinabrannte. Auf Höhe der vierten Galerieebene sah es von der gegenüberliegenden Seite des Treppenschachts zu mir empor und schenkte mir einen unergründlichen Blick, dann hetzte es weiter abwärts.
Und dann, als das Stakkato seiner Schritte sich in der Tiefe verloren hatte, traf mich eine Windböe …
Während ich mich verwundert nach der Ursache umsah, wurde der Wind jäh zum Sturm, und der Sturm zum Orkan. Ich beugte mich über die Balustrade und blickte in den weit unter die Grundfeste des Turmes reichenden Abgrund. Etwas Gigantisches quoll aus der Tiefe empor wie aufsteigendes Magma in einem Vulkanschlot, eine kosmische, alles verschlingende Schwärze ohne Konturen. Entsetzt wirbelte ich herum, kroch durch den Durchschlupf zurück in den Korridor – und rannte!
Ehe ich das Ende des Flurs erreicht hatte, sprengte der Sturm hinter mir die Barriere und wirbelte Balken und Bretter wie Geschosse umher. Atemlos am Ende des Korridors angelangt, riss ich die Regentenflügel von der Wand und legte sie an. Statt mich jedoch mit ihnen vom wenige Schritte entfernten Balkon zu stürzen, vollbrachte ich es nur noch, mich dem Sturm zuzuwenden – und stand ihr zum ersten Mal gegenüber. Der Dunkelheit. Dem Uterus der Schatten. Einer Finsternis, in der nie ein Stern geleuchtet hatte oder jemals auch nur das kleinste Licht aufgeflackert, der leiseste Hoffnungsschimmer aufgekeimt waren. Ich blickte in die Abwesenheit allen Seins, das wir lieben und an das wir glauben – in eine Tiefe, erfüllt von allem, was wir fürchten und verabscheuen.
Ich wusste nicht, was sie zögern ließ. Vielleicht waren es die Flügel auf meinem Rücken, vielleicht aber auch die Verwunderung darüber, sie im Domizil ihres einstigen Protegés von einem Menschen getragen zu sehen. Und zu erkennen, dass ihr Ruf nicht einen der anderen Schatten herbeigelockt hatte, sondern – mich!
Einen Überlebenden.
Ich erinnere mich an eine mächtige Stimme in meinem Kopf und nie gehörte Worte wie Donnergrollen. Dann kam etwas aus der Schwärze herausgeschossen, traf mich im Gesicht, riss es mir von den Knochen und ersetzte es durch einen Teil ihrer selbst. Die Schwärze füllte die schreckliche Wunde aus, der Schmerz der Entstellung währte nur kurz. Kaum hatte die Dunkelheit ihren Tribut eingefordert, entschwand sie auch schon wieder durch den Korridor wie abziehender Dunst und sank zurück in den bodenlosen Abgrund, aus dem sie gekommen war.
Oh, ich kann hinter den Schrecken in euren Augen blicken … Trotz eurer Furcht wollt ihr wissen, was es mit der Kreatur auf sich hatte, die von mir verjagt wurde, habe ich recht?
Nun, ich habe sie wiedergesehen. Sie war noch vor Sonnenuntergang zurückgekehrt, hatte ein wärmendes Gespinst um mich gewoben, derweil ich – gelähmt vom Kuss der Dunkelheit – auf dem Korridor lag, und mir Essen gebracht, nachdem ich mich wieder zu regen vermochte.
Ja, da staunt ihr, nicht wahr?
Trotz seines abstoßenden Äußeren hat mich das Verhalten dieses Unwesens nicht wirklich überrascht. Im Gegenteil, es war mit ein Grund dafür gewesen, weshalb ich es letztlich gewagt hatte, den Turm zu betreten. Denn seit Ende der Revolution wird auf den Straßen gemunkelt, jeder Turmregent habe einen treu ergebenen Adjutanten, der die Schwingen seines Schattens pflegt und zur Stelle ist, wann immer er gerufen wird.
So nenne ich heute also nicht allein einen Turm mein Eigen, sondern auch eine Dienerin.
Ich weiß nicht, ob sie mich versteht, wenn ich zu ihr spreche, und wie es um ihre Loyalität tatsächlich bestellt ist. Vielleicht handelt sie einfach nur intuitiv oder liest meine Gedanken, derweil sie Pläne für mein Ableben schmiedet. Schon ein flüchtiger Giftbiss würde mich zweifellos töten. Ein einziger ihrer Fäden kann mir zum Verhängnis werden. Ein leiser Ruf von ihr könnte womöglich alles Ungeziefer des Turms auf mich hetzen.
Ob sie tatsächlich die Adjutantin des toten Regenten war und nun die meine ist, oder bisweilen nur das mächtigste und intelligenteste Ungeziefer im Turm, weiß ich nicht. Und ihr könnt mir glauben, Kinder, diese Ungewissheit macht mir Angst und raubt mir den Schlaf.
Doch seht, ich lebe noch, und meine Flügel sind geölt und glänzen. So vermag ich heute Abend unter euch zu weilen, um euch in die Geheimnisse der Schatten einzuweihen – und morgen dank der Schwingen auf meinem Rücken schon in einer weiteren Kolonie vor den Ruinen einer anderen fernen Stadt.
Vielleicht waren der Tod des Regenten und meine damalige Freveltat an ihm eine willkürliche Verkettung besonderer Umstände gewesen. Vielleicht hatte aber auch eine weitaus höhere Macht die Geschicke gelenkt. Womöglich ist mein Los ein Zeichen an die Welt, die Hoffnung nicht aufzugeben. Solange einer der Herrscher unsere Luft atmet, werde ich sonach weiterhin Abend für Abend auf der Spitze meines Turmes sitzen und auf sie niederblicken.
So hört, ihr Kreaturen, die ihr euch im Angesicht der Sonne hinter dem Klang eurer Glocken versteckt: Ich bin dem Ruf der Dunkelheit gefolgt, obwohl mir davor gegraut hatte, in Blut, Kot und Erbrochenem zu erwachen und im Sumpf der Entsetzlichkeiten unterzugehen. Sie hat mich gelehrt, dass das bitter gewordene Wasser dieser Welt sich nur mit den Schatten eurer Seelen wieder in süßen Wein verwandeln lässt. So predige ich zwischen den Wolken und den Leichentüchern, die einst um die Leiber der geschändeten Kirchen gehüllt waren, über euch Söhne ohne heiliges Land.
Viele von euch suchen mich. Durch die Straßen irrt ihr, wartet im Dunkel auf mich und hofft auf ein Flüstern, das die Stadt erbeben lässt. So viel Zeit verschwendet ihr, und doch geht die Sonne immer wieder für euch unter. Dabei bin ich meist nur einen Atemzug weit von euch entfernt. Ihr sprecht mich an, tagein, tagaus, bittet mich hier um ein wenig Tabak, dort um einen Obolus, und jene von euch, die sich in unseren Ruinen verirrt haben, fragen mich nach dem rechten Weg. Ihr Kreaturen fragt mich nach dem Weg und wisst nicht, mit wem ihr redet!
Also weise ich euch die Richtung – und sie führt euch nirgendwohin. Dort trefft ihr mich wieder, mit einer neuen Bitte, einer neuen Frage. Vielleicht erkundigt ihr euch nach der Zeit. Für mich existiert sie nicht mehr, und dennoch habe ich sie im Überfluss. Ich verschenke sie; an jene von euch, die es eilig haben, ein paar Sekunden weniger, den anderen ein paar Sekunden mehr. Dafür schenkt ihr mir ein paar Atemzüge eures Lebens. Ist das nicht gerecht? Meine Zeit wird euch nie genug sein. Der Rauch wird euch nicht befriedigen, die Münzen werden nicht reichen. Erst wenn ihr euch abwendet, sehe ich euch an. Ob ihr mich liebt oder hasst, spielt keine Rolle. Vermengt einen Löffel Honig mit Salz und kostet davon, dann werdet ihr verstehen.
Und lasst euch gesagt sein: Ich werde der letzte Stern sein, den ihr seht – denn keine Finsternis währt ewig!
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