Verantwortlich leben. Timothy J Geddert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Timothy J Geddert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783862567348
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suchen nicht eine »versteckte Botschaft«, die den Text selbst womöglich überflüssig macht. Das Ziel ist eher, die Herausforderungen und Einladungen des Textes zu verinnerlichen, uns vom Wort Gottes durchdringen zu lassen, damit es in uns weiterleben und uns in konkreten Situationen leiten kann. Vor allem die letzten drei Beiträge dieses Buches verfolgen dieses Ziel. Der Bibelausleger Walter Brueggemann redet davon, dass die biblischen Texte die Grundlage unseres Vorstellungsvermögens bilden. Das ist das Ziel. Wir suchen nicht ein Gesamtbild, nicht die »einzig richtige Position«, die durch das Harmonisieren aller aus dem Text entwickelten Prinzipien formuliert würde.

      2. Ich will biblische Vorgehensweisen, nicht einfach nur Antworten suchen. Jeder will Antworten haben. Ist Scheidung erlaubt? Ist vorehelicher Geschlechtsverkehr Sünde? Wäre es richtig oder falsch, mein Geld da und dort zu investieren? Viel mehr als einfache Antworten finden wir in der Bibel Hilfestellungen, verantwortlich mit unseren Fragen umzugehen. Wir finden Anweisungen, welche Haltungen notwendig sind, um einen Konsens zu finden. Wir werden ermutigt, auf Gottes Geist, auf sein Wort und aufeinander zu hören, um Antworten zu finden, die Gottes Zustimmung erhalten. Klare Antworten finden wir zwar auch – aber nur manchmal.

      3. Ich will bei ethischen Themen Gottes Absichten und nicht nur geltende Vorschriften entdecken. »Was hat euch Mose vorgeschrieben?« fragte Jesus einmal. Als die Pharisäer anfingen, eine Bibelstelle zu zitieren, unterbrach er sie: »Falsche Stelle!« Gottes ursprüngliche Absicht war eine andere als die in ihrem bevorzugten Text zitierte (siehe Markus 10,2–9). Wenn wir die Antworten auf konkrete Fragen an den »falschen« biblischen Stellen suchen, dann ist das nicht biblisch, selbst wenn wir Kapitel und Vers nennen. Mancher würde am Ende seines Bibelstudiums gerne »die geltenden Vorschriften« aufstellen, damit alles ein für allemal geregelt ist. Doch wenn wir uns auf Gottes Absichten und nicht auf Regeln konzentrieren, finden wir ein gutes Gleichgewicht von Normen und Freiheit.

      4. Ich will die Vielfalt der Bibel und die des Lebens wahrnehmen. Die Bibel ist deswegen vielfältig, weil das Leben vielfältig ist. Gott bleibt in allen Situationen gnädig, liebevoll und treu. Oft handelt er aber in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich. Und auch darin ist er ein Vorbild für uns. Wir sind keine »Fälle«, wir sind Menschen. Die Bibel lässt uns Themen häufig aus verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Und das hilft uns, Gottes Wege zu finden, wenn wir versuchen, Menschen in ihren jeweiligen Situationen zu begleiten – wenn wir ihnen helfen, Jesus zu begegnen, Nachfolge neu zu entdecken, verantwortlich zu handeln. Wir lassen die Vielfalt der Bibel stehen und vertrauen darauf, dass Gottes Geist und die christliche Gemeinschaft uns helfen, in konkreten Situationen zu beurteilen, welche biblischen Bilder und Botschaften unser Handeln bestimmen sollen. Ohne Richtlinien kommen wir nicht aus. Aber Menschen ohne Rücksicht auf ihre aktuelle Lebenssituation in vorgefertigte Formen zu pressen, das ist nicht der biblische Weg, ist nicht im Sinne Jesu.

       Die Rollen der Bibel – vier Bilder

      Um die Bibel zu verstehen, ist es außerdem hilfreich, zu fragen, wie sie eigentlich »funktioniert«. Sie funktioniert nämlich vielschichtig und nicht an allen Stellen gleich.

      1. Ein Fenster: Die Bibel offenbart, was Gott in der Geschichte tat. Die Texte der Bibel zeigen uns, was Gott alles zustande brachte und wie er sein Volk durch die Jahrhunderte begleitete und führte. Wenn wir durch die Bibeltexte hindurch sehen, dann entdecken wir dahinter Geschichte. Wir beobachten, wie Menschen lebten, wie Gott mit ihnen umging, wie Jesus war. Wir sehen, wie der Heilige Geist die Urgemeinde führte, wie Paulus Gemeinden lehrte. Manches, was sie damals taten, ist auch eine Verpflichtung für uns. Wir können von ihnen lernen. So wird die Bibel zu einem Fenster: Durch dieses Fenster wird sichtbar, was dahinter liegt. Und so kann die biblische Geschichte auch unsere Geschichte werden.

      2. Eine Ahnengalerie: Die Bibel zeigt uns positive und negative Vorbilder. Die Menschen in der Bibel sind nicht nur geschichtliche Persönlichkeiten, sondern auch literarische Charaktere. Wir sehen also auch in die Bibel hinein, nicht nur durch sie hindurch, um die von den Autoren gezeichneten Porträts zu entdecken. Da kommen viele Bilder zum Vorschein, gute und schlechte. Welche davon sind nachahmenswert? Was ist das Vorbildliche dabei, und was ist zum Beispiel auf die jeweilige Kultur bezogen? So betrachtet, wird die Bibel auch zu einer Ahnengalerie. Wir begegnen vielen verschiedenen Charakteren, von denen wir eine Menge lernen können – übrigens genauso wie von den Autoren, die diese Figuren so lebendig gestalteten.

      3. Ein Spiegel: Die Bibel zeigt mir, wie ich bin. Manchmal offenbart mir der Text nicht nur Geschichte oder Typen, sondern mich selbst. Ich erkenne mich darin wieder. Ja, genau so bin ich. Gerade das brauche ich. Diese Frage habe ich auch. Und so wird die Bibel zu einem Spiegel. Wenn ich einem Bibeltext erlaube, mir die inneren Bedürfnisse und Einstellungen meines Lebens zu zeigen, dann spricht er mir Gottes Hilfe und Führung zu.

      4. Eine Brille: Die Bibel hilft mir, schärfer zu sehen. Manchmal hilft mir ein Text nicht, indem er mir etwas zeigt, sondern indem er meine Sehfähigkeit verbessert. Er stattet mich mit einer Brille aus, damit ich die Welt so sehen kann, wie Gott sie sieht. Mit Hilfe dieser Brille kann ich mein Leben und das anderer mit Gottes Augen sehen. Manchmal genügt das schon, um zu erkennen, wie ich mich verhalten soll.

       Von den Texten zu unserem Handeln – vier Schritte

      Richard B. Hays schlägt in seinem sehr hilfreichen Buch The Moral Vision of the New Testament vier Schritte vor, die uns helfen, bei der Suche nach ethischen Entscheidungen und Richtlinien biblisch zu denken.

      1. Zuerst die Beschreibung: Was sagen die Texte der Bibel? Wie legen wir sie richtig aus? Welche Vielfalt entdecken wir in ihnen? Welche Gemeinsamkeiten sind vorhanden?

      2. Dann die Synthese: Wie passen die verschiedenen Beiträge der Bibel zum Zeugnis der ganzen Bibel? Wie helfen uns dabei die wichtigsten »Linsen«, die theologischen Gesichtspunkte der Bibel (für Hays sind das »Gemeinschaft«, »Kreuz« und »Neuschöpfung«)?

      3. Schließlich die Hermeneutik (Verstehenslehre): Was erhalten wir zum jeweiligen Thema aus der Bibel: Gesetze? Prinzipien? Ein Paradigma (Denkmuster, ein Weltbild)? Wie bauen wir die Brücke zu unserer Welt und unserer Situation? Wie helfen uns dabei menschliche Vernunft, Erfahrungen, Traditionen?

      4. Und zuletzt das Handeln: Wie lebt Jesu Kontrastgesellschaft mitten in einer Welt, die nach anderen Maßstäben lebt? Wie wird die biblische Ethik sichtbar und konkret in den Herausforderungen unseres Lebens (Richard B. Hays behandelt anschließend ausführlich fünf konkrete ethische Themen)?

      Wir müssen natürlich nicht immer genau diese vier Schritte gehen, die Hays beschreibt, um Einsichten zu gewinnen. Dennoch sind die dahinter liegenden Überlegungen sehr wertvoll, wenn wir biblische Hilfe suchen.

      So weit ich weiß, wurde bis jetzt nur ein Kapitel seines Buches ins Deutsche übersetzt, und zwar das über Homosexualität. Es ist lesenswert, nicht nur wegen seiner Ausführungen zu diesem Thema, sondern auch, um zu sehen, wie die Bibel uns bei aktuellen ethischen Fragen helfen kann.

       Auslegung und Anwendung

      Manche Bibelausleger (zum Beispiel Gordon Fee und Douglas Stuart in »Effektives Bibelstudium«) unterscheiden zwischen »Auslegung« oder »Exegese« (vor allem die ersten beiden Schritte von Hays) und »Anwendung« (vor allem die beiden letzten Schritte). Wenn wir die Bibel lesen, verstehen und in die Praxis umsetzen wollen, dann brauchen wir diese zwei, teilweise gar nicht voneinander zu trennenden, Schritte: »verstehen, was die Bibel sagt« und »anwenden, was die Bibel lehrt«.

      Für die Auslegung brauchen wir gute Übersetzungen, die uns schon einen Teil der Arbeit abnehmen. Ein gewisses Wissen über die Umstände des Geschriebenen, über die kulturelle Situation, in der etwas geschrieben wurde, und ein allgemeines Wissen über die Bibel und ihre Botschaft helfen, dass wir einzelne Stellen so hören, wie die