Um es auf den Punkt zu bringen: Ich halte dieses Buch für wichtig und will Ihnen gerne mitteilen, weshalb.
Viele Jahre habe ich vorwiegend mit jungen Leuten gearbeitet. Eine Reihe von ihnen kamen aus christlichen Elternhäusern, kannten die Bibel von klein auf und hatten doch nicht gelernt, mit ihr zu leben. Vor allem hatten sie die gute Nachricht Gottes vom Leben nicht wirklich als Befreiung erfahren. Ihr frommer Erfahrungshintergrund bestand aus einer Vielzahl von Regeln, die oft negativ formuliert wurden: »Du sollst nicht!« und »Du darfst nicht!« Das hatte sie tief geprägt und führte bei manchen dazu, dass sie sich nie wirklich über ihren Glauben an Jesus Christus freuen konnten. Selbst bei schönen und angenehmen Lebenserfahrungen wurden sie das Gefühl nicht los, dass da irgendwo ein Haken sein müsse, dass es ihnen eigentlich zu gut ginge und dass sie mindestens in der Gefahr stünden, die Ernsthaftigkeit eines Lebens mit Gott zu verlieren. Christsein bedeutete für sie vor allem Verzicht. Hatten sie bei Weggabelungen nach dem Willen Gottes zu fragen, so stand für sie von vorneherein fest, dass nur der schwerere Weg seiner Führung entsprechen könne. Nicht alle, die ich kennen lernte, hielten diese Frömmigkeit auf Dauer durch. Manche tauchten weg in eine innere Emigration, formal waren sie noch dabei, aber privat lebten sie ihr eigenes Leben. Andere machten ganz offenkundig Schluss mit dem Glauben. Mehr oder weniger demonstrativ brachen sie mit ihrer frommen Vergangenheit und versuchten alles, was sie bisher entbehrt hatten, nachzuholen.
Und auch eine andere Art Christen habe ich kennen gelernt: Sie leben eine liberale Frömmigkeit, bei der die Gnade Gottes billig wird. Was immer man tut, die Gnade wird’s richten. Bei diesen Leuten wird Gott zu einem liebenswürdigen Herrn, der in der Regel beide Augen zudrückt und der niemandem wirklich böse sein kann. Für solche Leute gehören die biblischen Gebote zu einem zeitgebundenen Moralsystem, das für uns heute praktisch keine Bedeutung mehr hat. Nur die Liebe zählt, und was aus Liebe geschieht, kann nicht böse sein. Auf diese Weise lässt sich jeder Ehebruch begründen und für fast jede moralische Entgleisung Verständnis aufbringen.
Wie gesagt, mit beiden Positionen hatte ich zu tun und nicht nur bei jungen Leuten. Die Erwachsenen waren kaum anders, wenigstens was ihr Denken betraf. Sie zeigten es nur nicht so offen wie die Jungen, nahmen mehr Rücksicht auf ihr Umfeld, wagten oft nicht den offensichtlichen Ausbruch aus einem System, in dem sie aufgewachsen und zu Hause waren.
Und was mir dabei besonders auffiel, war die Tatsache, dass sowohl die gesetzliche wie auch die liberale Frömmigkeit dieselbe Wurzel hatte: Ein übernommenes Regelsystem, das von einem in der Freiheit an Jesus gebundenen Vertrauen meilenweit entfernt ist. Nicht dass biblische Begriffe wie Freiheit und Freude nicht vorgekommen wären. Aber es war wie in der früheren DDR. Auch dort wurde viel von Freiheit geredet, obwohl man sie nicht kannte. Es ist ja tatsächlich so: Was wir am wenigsten haben, davon reden wir am meisten.
Nein, mit Schlagworten lässt sich ein erstarrtes Christentum nicht aufbrechen, und wer einer liberalen Frömmigkeit mit verstärkten Gesetzen zu Leibe rücken will, erntet geradezu das Gegenteil. Es hilft ja nicht, wenn Eltern, Gemeindeälteste und Pastoren immer wieder sagen: »Das gehört sich nicht!« Was wir brauchen, ist ein begründeter Glaube, der die aktuellen Fragen und Auseinandersetzungen nicht ausblendet, sondern sie einbezieht und gerade angesichts solcher Herausforderungen aufzeigt, was der reformatorische Grundsatz Sola Scriptura, »allein die Schrift«, bedeutet.
Und genau das geschieht in diesem Buch. Tim Geddert verschweigt dabei nicht, dass selbst der Satz: »allein die Schrift« nicht so eindeutig ist, wie er klingt. Gibt es in der Bibel nicht tatsächlich auch zeitgebundene Aussagen? Können wir denn wirklich alles 1:1 übernehmen? Und was kann uns helfen, nicht willkürlich das eine vom anderen zu unterscheiden? Sorgfältig geht der Autor diesen Fragen nach. Er nimmt uns mit hinein in diese Problematik und führt uns zu begründeten Antworten. Und nicht nur das. Was mich an dem Buch besonders fasziniert, ist der Weg, den Tim Geddert dabei mit uns gemeinsam geht. Er leitet zur Eigenarbeit an. Sein Vorgehen ist exemplarisch, wir sollen daran lernen, selbst die erforderlichen Wege zu gehen und begründete Antworten zu finden.
Und noch etwas fällt mir in diesem Buch auf: Wir leben heute in einem ganz und gar individualistischen Zeitalter. Diese Einstellung macht auch nicht vor unserem Christsein halt. Mein Gott und ich, andere haben da gefälligst nicht hineinzureden. Tim Geddert sieht das anders, weil es die Bibel anders sieht. Nach seiner Überzeugung gehört zu einem Leben als Christ die Gemeinschaft mit Schwestern und Brüdern. Was heißt das? Wie wirkt sich das auf die Frage nach dem Willen Gottes aus? Und was bedeutet Gemeinschaft, wenn jemand schuldig wird? Wie gehen wir gemeinsam damit um? Das alles sind wichtige Fragen, unausweichlich für Menschen, die sich nach echtem Glauben sehnen. Und auch darum geht es in diesem Buch.
Nein, so einfach konsumieren lässt es sich nicht. Es fordert zur Mitarbeit heraus. Zeitweise gewinnt man den Eindruck, mit dem Autor zusammen zu sitzen und mit ihm gemeinsam den Fragen nach einem echten und erfüllenden Christsein nachzuspüren. Die Gesprächs- und Denkanstöße helfen, sich dem zu stellen – persönlich und gemeinsam mit anderen. Und ich bin sicher, wer sich auf diesen Prozess einlässt, kommt weiter in seinem Leben mit Jesus. Werden Sie sich darauf einlassen?
Vor vielen Jahren unterhielt ich mich zu Beginn eines Gottesdienstes mit einem jungen Mann an der Eingangstür zur Kirche. Enttäuscht erzählte er mir, in seiner Gemeinde sei niemand, der in ihm den Wunsch wecke: »So wie der ist, möchtest du auch sein.« Zwar zeigte sich in dem weiteren Gespräch, dass er zu schwarz gesehen hatte, trotzdem bin ich überzeugt, dass wir gerade solche Leute brauchen: Christen, die echt sind, die in ihrer Lebensausrichtung nicht einfach einem traditionellen Gesetz folgen oder es missachten, sondern die begründet mit Jesus leben, auf sein Wort hören und seinen Willen tun. Der folgende Text wird Ihnen helfen, ein solcher Mensch zu sein.
Peter Strauch Witten, Ostern 2004
Einführung
Dieses Buch will konkrete Hilfe anbieten, wie wir als Gemeinden aktuelle ethische Fragen besprechen und wo wir gegebenenfalls Richtlinien finden können. Dabei geht es um den Mittelweg zwischen einer Regelorientierung, in der alles gesetzlich und objektiv betrachtet wird, und einer Unverantwortlichkeit, in der alles erlaubt ist und niemand etwas zu sagen hat. Wie genau die Bibel uns dabei helfen kann, das ist bei all diesen Themen eine wichtige Überlegung. Nicht in jedem Kapitel verfolge ich das Ziel, meine persönlichen Überzeugungen stichhaltig zu untermauern. Ich möchte den Leserinnen und Lesern eher helfen, in ihren eigenen christlichen Gemeinschaften biblische Richtlinien zu suchen und gemeinsame Wege einzuschlagen.
Worum geht es in diesem Buch?
Grundlegendes
• Im ersten Kapitel will ich darstellen, wie ich selbst mit der Bibel umgehe. Nicht alle Meinungen über die Bibel, die fromm klingen, sind hilfreich, um aus der Bibel Wegweisungen zu gewinnen. Aber welche Haltungen in Bezug auf das Wesen der Bibel helfen? Was für ein Buch ist die Bibel überhaupt? Welche Ziele, welche Haltungen, welche Schritte können uns voranbringen?
• Anschließend werfe ich einen Blick auf einen Vortrag Jesu darüber, wie verbindliche Gemeinschaft aussieht, wenn er selbst die Mitte ist und wenn Versöhnung und Verantwortlichkeit unser gemeinsames Leben prägen (Matthäus 18).
• In Kapitel drei schlage ich zwölf Schwerpunkte einer biblischen Ethik vor.
• Dann geht es um die berühmteste Predigt aller Zeiten: Die Bergpredigt (Matthäus 5-7) ist ein zentraler Vortrag Jesu zum Thema »Nachfolge« und »Ethik«. Dieses Kapitel will daraus Richtlinien gewinnen und einige praktische Auswirkungen aufzeigen.
Beispielhaftes
• Im fünften Kapitel greife ich die Frage von Gewaltlosigkeit und Feindesliebe auf. Konkret: Können Nachfolger Jesu Teil einer militärischen Armee sein?
• Das Geschenk der Sexualität und Gottes »Gebrauchsanweisungen« beschäftigen uns im sechsten Kapitel. In der heutigen Gesellschaft meinen viele, eine aktive sexuelle Beziehung bei (noch) nicht verheirateten Paaren sei ganz normal und akzeptabel. Doch was sagt die Bibel dazu? Und was meint die Gemeinde Jesu?