b) Eine zweite Gefahr ist, dass wir nicht erkennen, wie subjektiv unsere Suche nach Prinzipien eigentlich sein kann. In der Tat finden wir oft genau die Prinzipien, die wir brauchen, damit der Text nicht unsere vorgefertigten Meinungen in Frage stellt, damit wir unsere Traditionen verteidigen können oder ganz einfach damit wir nicht gegen den Strom unserer Kultur schwimmen müssen. Der Text soll unsere Überzeugungen immer in Frage stellen können, sonst ist die Bibel für uns nicht mehr Maßstab, auch wenn wir das behaupten.
c) Die Suche nach Prinzipien ist wichtig, aber sie garantiert noch keinen Konsens. Wenn wir Texte unterschiedlich interpretieren, dann häufig nicht, weil unsere Auslegungen sich unterscheiden, sondern weil wir verschiedene Prinzipien entdecken. Wenn Paulus über Götzenopferfleisch redet (zum Beispiel in Römer 14,13–23), dann ist das Prinzip nicht all zu schwer zu entdecken: Paulus wollte, dass wir Rücksicht aufeinander nehmen, damit unsere Freiheit nicht zum Problem für andere wird. Dieses Prinzip können wir in vielen Situationen anwenden. Aber was ist das Prinzip hinter seinen Anweisungen in 1. Korinther 11 (dem Text über die Kopfbedeckung der Frau)? Hier ein paar denkbare Alternativen:
• »Unsere Bekleidung soll kulturell angemessen sein, damit wir nicht deswegen auffallen.«
• »Im Gottesdienst sollen Unterschiede zwischen Männer- und Frauenkleidung sichtbar sein, um zu zeigen, dass der Mann das Haupt der Frau ist.«
• »Im Gottesdienst sollen Frauen sich so verhalten und so erscheinen, dass die Engel nicht in Versuchung kommen« (siehe 1. Korinther 11,10).
• »Frauen haben das Recht, im Gottesdienst dieselben Geistesgaben wie Männer zu praktizieren, solange sie nicht versuchen, durch ihre Kleidung ihre Weiblichkeit zu verleugnen.«
Wenn die Prinzipien, die wir meinen, entdeckt zu haben, nicht dieselben sind, wie die, die andere dort entdecken, dann ist dieser Ansatz nicht gerade ein Geheimrezept für die Konsensbildung in einer Gemeinde. Er hilft uns. Er garantiert aber nicht, dass er alle Probleme in Bezug auf die Anwendung der Bibel löst.
3. Sich in den Text hineindenken
Hier will ich versuchen, den zweiten Punkt (»Das Prinzip neu anwenden«) etwas anders zu formulieren. Manche lesen die Bibel, als sei sie ein Buch voller versteckter Prinzipien, theologischer und ethischer Aussagen. Unsere Aufgabe sei es dann, diese versteckten Lektionen zu finden und thematisch zu sortieren. Das Ergebnis sind dann unsere Theologie, unsere Ethik, unsere Glaubensbekenntnisse usw. Und wenn wir ehrlich sind, spielen sie oft eine größere Rolle in unserem Leben als die Bibel selbst.
Aber die Bibel ist nicht lediglich eine Vorstufe unserer schlauen Theologiebücher. Die Bibel ist in erster Linie nicht einmal ein Theologiebuch. Die Bibel ist eine Geschichte. Sie ist die Geschichte Gottes mit den Menschen (unter anderem). Wir sind Teil dieser Geschichte. Natürlich gibt es viele Lehraussagen, Gebote, Verheißungen usw., aber sie sind in einer Geschichte enthalten.
Wir wollen ja nicht nur Prinzipien aus den Texten herauskitzeln, wir wollen schließlich auch der Einladung folgen und an der allumfassenden Geschichte Gottes mit den Menschen teilhaben. Wenn wir in dieser Geschichte leben, dann erkennen wir mit den anderen Teilnehmern (mit den Propheten, den Israeliten, den Jüngern Jesu, mit Paulus oder den Korinthern), wie Gott ist, wie er mit Menschen umgeht, wie er uns leitet, worin der Ruf in die Nachfolge Jesu besteht.
Es gilt nach wie vor, eine Brücke zu bauen von der damaligen Situation zu unserer heute. Wir überqueren diese Brücke, wenn wir uns in die Geschichte hineinversetzen. Aber die Einsichten müssen immer noch in unserer Welt und nicht in jener Welt in die Praxis umgesetzt werden.
Die Prinzipien eines Textes müssen nach wie vor erkannt und in unserer Zeit neu angewendet werden. Aber wir versuchen, die Bibel als Geschichte und nicht nur als versteckte Theologie, versteckte ethische Prinzipien usw. zu betrachten. Das ist ein weiterer Schritt vorwärts – wenn er auch nicht automatisch die Umsetzung erleichtert.
4. Hinhören, was der Geist sagt
Dieser Ansatz klingt sehr geistlich. Wer kann schon etwas dagegen sagen! Deswegen will ich voranstellen: Ich glaube, der Heilige Geist führt uns tatsächlich. Manchmal zieht er uns sogar den Boden unter den Füßen weg, zeigt uns Dinge in der Bibel, die wir gar nicht gesucht haben, vielleicht gar nicht sehen wollten.
Aber natürlich stammt nicht alles, was uns beim Bibellesen »einfällt«, vom Geist Gottes. Nicht einmal, wenn wir versuchen, auf Gottes Geist zu hören, ist alles, was uns dann einfällt, auch automatisch das, was Gott uns sagen möchte. Vor allem, wenn andere gar nicht erkennen können, dass diese oder jene Einsicht von Gott ist, sollten wir sehr zurückhaltend sein mit der Annahme: Gott hat mir gezeigt, was dieser Text zu sagen hat und wie er in die Praxis umzusetzen ist.
Ohne Frage können wir in unserer Stillen Zeit durch die Bibel eine Begegnung mit Gott erwarten. Aber Vorsicht bei dem Gedanken, dass wir als Einzelne beim persönlichen Warten auf Gottes Führung entscheidende Wegweisungen für die Theologie oder Ethik der ganzen Gemeinde gewinnen würden. Zwar behauptete schon die Urgemeinde: »Der Heilige Geist und wir haben beschlossen …« (Apostelgeschichte 15,28). Aber das war eben, nachdem sie gemeinsam als Versammlung einen Konsens erreicht hatten. Das ist etwas völlig anderes als die Behauptung eines Einzelnen: »Der Heilige Geist und ich …« (siehe auch Kapitel zehn).
Was wir »Gottes Führung« oder die »Stimme des Heiligen Geistes« nennen, ist manchmal in der Tat eine Mischung aus dem, was Gott sagt, und unserer Tradition, unserer Neigung, unseren Wünschen, den Einsichten, die wir meinen, aus dem Text gewonnen zu haben (die wir in Wirklichkeit aber in ihn hineingelesen haben). Ein zuverlässiger Führer sind meine persönlichen Meinungen daher kaum!
Dennoch: Selbst wenn wir diese Meinungen anders nennen, wenn wir nicht von der »Stimme des Heiligen Geistes« reden, sondern »mein Bauchgefühl« oder »mein Eindruck« sagen, spielen sie eine wichtige und manchmal hilfreiche Rolle bei unserem Versuch, der Bibel treu zu sein.
Jeder hat beim Umgang mit biblischen Texten irgendwelche »Bauchgefühle«. Nicht immer können wir genau erklären, warum wir zu bestimmten Überzeugungen gekommen sind, wie ein Text zu verstehen und anzuwenden ist. So durchwachsen diese Gefühle auch sein mögen, sie können uns durchaus vor Gefahren schützen. Das »Bauchgefühl« eines ernsthaft nach der Wahrheit suchenden Gläubigen ist manchmal zuverlässiger als das logische Denken mancher Theologen.
Angenommen, wir hätten zwei Menschen vor uns: Der eine ein junger Mann, frisch von der Bibelschule, ausgerüstet mit sehr viel Bibelwissen und einer sorgfältig durchdachten systematischen Theologie. Er ist sehr klug, kann logisch denken und überzeugend reden. Der andere ist eine alte Schwester, die nie die Gelegenheit hatte, eine Bibelschule zu besuchen. Vielleicht besuchte sie nur die Grundschule. Sie versteht keine Theorie der Hermeneutik, hatte auch nie ein Fachbuch in der Hand – hat aber eine lebenslange tiefe Beziehung zu Jesus Christus und zu seiner Gemeinde, liebt die Bibel und liest sie regelmäßig.
Nun steht die Gemeinde vor einer schwierigen Entscheidung: Was lehrt die Bibel über diese Frage? Beide sind überzeugt. Der junge Mann kann seine Meinung mit kräftigen Argumenten vertreten. Die alte Schwester kann keine stichhaltigen logischen Argumente aufstellen. Aber ihr Bauch fühlt sich sehr unwohl mit der theologischen Richtung, die von ihrem jungen Bruder vorgeschlagen wird.
Auf wessen Meinung sollte die Gemeinde nun hören? Ich würde mindestens genau so viel Vertrauen in das »Bauchgefühl« der lieben alten Schwester wie in die Logik des jungen Bruders setzen. Natürlich brauchen sie einander und auch die Gemeinde braucht beide. Aber es wäre problematisch, wenn dieses unbegründete »Bauchgefühl« in solch einer Auseinandersetzung nicht zählen würde. Der Geist Gottes bringt solche Eindrücke mindestens so oft hervor wie schlaue theologische Argumentationen.
Welcher dieser vier Ansätze ist nun der richtige?
1. Die direkte Anwendung
2.