14 Das sind die neuen Formen einer kulturellen Kolonisation. Wir wollen nicht vergessen, dass »die Völker, die ihre eigene Tradition veräußern und aus einem Nachahmungswahn, einer aufgezwungenen Gewalt, einer unverzeihlichen Nachlässigkeit oder einer Apathie dulden, dass ihnen die Seele entrissen wird, neben ihrer geistlichen Physiognomie auch ihre moralische Festigkeit und schließlich ihre weltanschauliche, wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit verlieren«.11 Eine wirksame Weise, das geschichtliche Bewusstsein, das kritische Denken, den Einsatz für die Gerechtigkeit und die Kurse zur Integration aufzulösen, sind die Sinnentleerung oder die Änderung großer Wörter. Was bedeuten heute einige dieser Begriffe wie Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Einheit? Sie sind manipuliert und verzerrt worden, um sie als Herrschaftsinstrumente zu benutzen, als sinnentleerte Aufschriften, die zur Rechtfertigung jedweden Tuns dienen können.
Ohne einen Plan für alle
15 Die beste Methode, zu herrschen und uneingeschränkt voranzuschreiten, besteht darin, Hoffnungslosigkeit auszusäen und ständiges Misstrauen zu wecken, selbst wenn sie sich mit der Verteidigung einiger Werte tarnt. Heute verwendet man in vielen Ländern den politischen Mechanismus des Aufstachelns, Verhärtens und Polarisierens. Auf verschiedene Art und Weise spricht man anderen das Recht auf Existenz und eigenes Denken ab. Zu diesem Zweck bedient man sich der Strategie des Lächerlich-Machens, des Schürens von Verdächtigungen ihnen gegenüber, des Einkreisens. Man nimmt ihre Sicht der Wahrheit und ihre Werte nicht an. Auf diese Weise verarmt die Gesellschaft und reduziert sich auf die Selbstherrlichkeit des Stärksten. Die Politik ist daher nicht mehr eine gesunde Diskussion über langfristige Vorhaben für die Entwicklung aller und zum Gemeinwohl, sondern bietet nur noch flüchtige Rezepte der Vermarktung, die in der Zerstörung des anderen ihr wirkungsvollstes Mittel finden. In diesem primitiven Spiel der Abqualifizierungen wird die Debatte manipuliert, um die Menschen ständig infrage zu stellen und auf Konfrontation mit ihnen zu gehen.
16 Wie ist es bei einem solchen Zusammenstoß der Interessen, der alle gegen alle aufbringt und wo siegen zu einem Synonym für zerstören wird, noch möglich, das Haupt zu erheben, um den Nachbarn wahrzunehmen oder jemandem beizustehen, der auf der Straße hingefallen ist? Ein Plan mit großen Zielen für die Entwicklung der Menschheit klingt heute wie eine Verrücktheit. Es vergrößern sich die Abstände zwischen uns, und der harte und schleppende Weg zu einer geeinten und gerechteren Welt erleidet einen neuen und drastischen Rückschlag.
17 Sorge tragen für die Welt, die uns umgibt und uns erhält, bedeutet Sorge tragen für uns selbst. Wir müssen uns aber zusammenschließen in einem ›Wir‹, welches das gemeinsame Haus bewohnt. Dieses Bemühen interessiert die wirtschaftlichen Mächte nicht, die schnelle Erträge brauchen. Oft werden die Stimmen, die sich zur Verteidigung der Umwelt erheben, zum Schweigen gebracht oder der Lächerlichkeit preisgegeben und andererseits Partikularinteressen mit dem Mantel der Vernünftigkeit umhüllt. In dieser Kultur, die wir gerade aufbauen – leer, auf das Unmittelbare gerichtet und ohne einen gemeinsamen Plan –, ist es »vorhersehbar, dass angesichts der Erschöpfung einiger Ressourcen eine Situation entsteht, die neue Kriege begünstigt, die als eine Geltendmachung edler Ansprüche getarnt werden«.12
Der Ausschuss der Welt
18 Teile der Menschheit scheinen geopfert werden zu können zugunsten einer bevorzugten Bevölkerungsgruppe, die für würdig gehalten wird, ein Leben ohne Einschränkungen zu führen. Im Grunde werden die Menschen »nicht mehr als ein vorrangiger, zu respektierender und zu schützender Wert empfunden, besonders, wenn sie arm sind oder eine Behinderung haben, wenn sie – wie die Ungeborenen – ›noch nicht nützlich sind‹ oder – wie die Alten – ›nicht mehr nützlich sind‹. Wir sind unsensibel geworden gegenüber jeder Form von Verschwendung, angefangen bei jener der Nahrungsmittel, die zu den verwerflichsten gehört«.13
19 Der Geburtenrückgang, der zu einer Alterung der Bevölkerung führt, und die Tatsache, dass die älteren Menschen einer schmerzlichen Einsamkeit überlassen werden, bringen implizit zum Ausdruck, dass alles mit uns vorbei sein wird, wo nur unsere individuellen Interessen zählen. So »werden heute nicht nur Nahrung und überflüssige Güter zu Abfall, sondern oft werden sogar die Menschen ›weggeworfen‹«.14 Wir haben gesehen, was mit den älteren Menschen an einigen Orten der Welt aufgrund des Corona-Virus geschehen ist. Sie sollten nicht auf diese Weise sterben. Tatsächlich aber war etwas Ähnliches schon bei mancher Hitzewelle und unter anderen Umständen vorgefallen: Sie wurden brutal weggeworfen. Es wird uns bewusst, dass eine Isolierung der älteren Menschen und ihre Übergabe in die Obhut anderer ohne eine angemessene und gefühlvolle familiäre Begleitung die Familie selbst verstümmelt und ärmer macht. Im Übrigen führt es dazu, dass den jungen Menschen der nötige Kontakt mit ihren Wurzeln und mit einer Weisheit, welche die Jugend von sich aus nicht erreichen kann, vorenthalten wird.
20 Diese Aussonderung zeigt sich auf vielfältige Weise, wie etwa in der Versessenheit, die Kosten der Arbeit zu reduzieren, ohne sich der schwerwiegenden Konsequenzen bewusst zu werden, die eine solche Maßnahme auslöst; denn die entstandene Arbeitslosigkeit führt direkt zu einer zunehmenden Verbreitung der Armut.15 Die Aussonderung nimmt zudem abscheuliche Formen an, die wir als überwunden glaubten, wie etwa der Rassismus, der verborgen ist und immer wieder neu zum Vorschein kommt. Die verschiedenen Ausprägungen des Rassismus erfüllen uns erneut mit Scham, denn sie zeigen, dass die vermeintlichen Fortschritte der Gesellschaft nicht so real und ein für alle Mal abgesichert sind.
21 Es gibt wirtschaftliche Regeln, die sich als wirksam für das Wachstum, aber nicht gleicherweise für die Gesamtentwicklung des Menschen erweisen.16 Der Reichtum wächst, aber auf ungleiche Weise, und so »entstehen neue Formen der Armut«.17 Wenn man sagt, dass die moderne Welt die Armut verringert habe, so misst man hier mit Maßstäben anderer Epochen, die nicht mit der aktuellen Wirklichkeit vergleichbar sind. In anderen Zeiten wurde zum Beispiel die Tatsache, dass man keinen Zugang zur elektrischen Energie hatte, nicht als Zeichen der Armut betrachtet und gab keinen Anlass zu Sorge. Man untersucht und man versteht die Armut immer nur im Zusammenhang mit den wirklichen Gegebenheiten eines bestimmten historischen Moments.
Menschenrechte, die nicht universal genug sind
22 Oft stellt man fest, dass tatsächlich die Menschenrechte nicht für alle gleich gelten. Die Achtung dieser Rechte »ist ja die Vorbedingung für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Wenn die Würde des Menschen geachtet wird und seine Rechte anerkannt und gewährleistet werden, erblühen auch Kreativität und Unternehmungsgeist, und die menschliche Persönlichkeit kann ihre vielfältigen Initiativen zugunsten des Gemeinwohls entfalten«.18 Doch »wenn man unsere gegenwärtigen Gesellschaften aufmerksam beobachtet, entdeckt man in der Tat zahlreiche Widersprüche, aufgrund derer wir uns fragen, ob die Gleichheit an Würde aller Menschen, die vor nunmehr 70 Jahren feierlich verkündet wurde, wirklich