Fratelli tutti. Papst Franziskus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Papst Franziskus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783843613149
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neuer entfernter Planeten gemacht haben, die Bedürfnisse unseres Bruders und unserer Schwester wiederentdecken würden, die um uns kreisen«.30

      Die Pandemien und andere Geisseln

      der Geschichte

      32 Eine globale Tragödie wie die Covid-19-Pandemie hat für eine gewisse Zeit wirklich das Bewusstsein geweckt, eine weltweite Gemeinschaft in einem Boot zu sein, wo das Übel eines Insassen allen zum Schaden gereicht. Wir haben uns daran erinnert, dass keiner sich allein retten kann, dass man nur Hilfe erfährt, wo andere zugegen sind. Daher sagte ich: »Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. […] Mit dem Sturm sind auch die stereotypen Masken gefallen, mit denen wir unser ›Ego‹ in ständiger Sorge um unser eigenes Image verkleidet haben; und es wurde wieder einmal jene segensreiche gemeinsame Zugehörigkeit offenbar, der wir uns nicht entziehen können, dass wir nämlich alle Brüder und Schwestern sind«.31

      33 Die Welt bewegte sich unerbittlich auf eine Wirtschaft zu, welche mit Hilfe des technologischen Fortschritts die ›menschlichen Kosten‹ zu verringern suchte, und mancher maßte sich an, uns glauben zu machen, die Freiheit des Marktes würde ausreichen, um alles zu gewährleisten. Doch der harte und unerwartete Schlag dieser außer Kontrolle geratenen Pandemie hat uns notgedrungen dazu gezwungen, wieder an die Menschen, an alle zu denken anstatt an den Nutzen einiger. Heute sehen wir ein, dass »wir uns mit Träumen von Pracht und Größe ernährt und letztlich doch nur Ablenkung, Verschlossenheit und Einsamkeit gegessen haben; wir haben uns mit Connections vollgestopft und darüber den Geschmack an der Geschwisterlichkeit verloren. Wir haben schnelle und sichere Ergebnisse gesucht und fühlen uns beklommen vor Ungeduld und Unruhe. Als Gefangene der Virtualität ist uns der Geschmack und das Aroma der Realität abhandengekommen«.32 Der Schmerz, die Unsicherheit, die Furcht und das Bewusstsein der eigenen Grenzen, welche die Pandemie hervorgerufen haben, appellieren an uns, unsere Lebensstile, unsere Beziehungen, die Organisation unserer Gesellschaft und vor allem den Sinn unserer Existenz zu überdenken.

      34 Wenn alles miteinander verbunden ist, fällt es uns schwer zu glauben, dass diese weltweite Katastrophe nicht in Beziehung dazu steht, wie wir der Wirklichkeit gegenübertreten, wenn wir uns anmaßen, die absoluten Herren des eigenen Lebens und von allem, was existiert, zu sein. Ich möchte hiermit nicht sagen, dass es sich um eine Art göttlicher Strafe handelt. Ebenso wenig kann man behaupten, dass der Schaden an der Natur am Ende die Rechnung für unsere Übergriffe fordert. Es ist die Wirklichkeit selbst, die seufzt und sich auflehnt. Es kommen uns da die berühmten Verse von Vergil in Erinnerung, wo die Tränen der Dinge oder der Geschichte heraufbeschworen werden.33

      35 Wir vergessen aber schnell die Lektionen der Geschichte, der »Lehrerin des Lebens«.34 Ist die Gesundheitskrise einmal überstanden, wäre es die schlimmste Reaktion, noch mehr in einen fieberhaften Konsumismus und in neue Formen der egoistischen Selbsterhaltung zu verfallen. Gott gebe es, dass es am Ende nicht mehr ›die Anderen‹, sondern nur ein ›Wir‹ gibt. Dass es nicht das x-te schwerwiegende Ereignis der Geschichte gewesen ist, aus dem wir nicht zu lernen vermocht haben. Dass wir nicht die älteren Menschen vergessen, die gestorben sind, weil es keine Beatmungsgeräte gab, teilweise als Folge der von Jahr zu Jahr abgebauten Gesundheitssysteme. Dass ein so großer Schmerz nicht umsonst war, dass wir einen Sprung hin zu einer neuen Lebensweise machen und wir ein für alle Mal entdecken, dass wir einander brauchen und in gegenseitiger Schuld stehen. So wird die Menschheit mit all ihren Gesichtern, all ihren Händen und all ihren Stimmen wiedererstehen, über die von uns geschaffenen Grenzen hinaus.

      36 Wenn es uns nicht gelingt, diese gemeinsame Leidenschaft für eine zusammenstehende und solidarische Gemeinschaft wiederzuerlangen, der man Zeit, Einsatz und Güter widmet, wird die weltweite Illusion, die uns täuscht, verheerend zusammenbrechen und viele dem Überdruss und der Leere überlassen. Im Übrigen sollte man nicht naiv übersehen, dass »die Versessenheit auf einen konsumorientierten Lebensstil – vor allem, wenn nur einige wenige ihn pflegen können – nur Gewalt und gegenseitige Zerstörung auslösen kann«.35 Das ›Rette sich wer kann‹ wird schnell zu einem ›Alle gegen alle‹, und das wird schlimmer als eine Pandemie sein.

      Ohne menschliche Würde an den Grenzen

      37 Sowohl in einigen populistischen politischen Regimen als auch in liberalen wirtschaftlichen Kreisen vertritt man die Ansicht, dass man die Ankunft von Migranten um jeden Preis vermeiden müsse. Gleichzeitig wird argumentiert, dass man die Hilfen für arme Länder beschränken soll, damit diese den Tiefstand erreichen und sich entschließen, Maßnahmen für effektive Einsparungen zu ergreifen. Man merkt aber nicht, dass solchen abstrakten, schwer aufrechtzuerhaltenden Behauptungen so viele zerstörte Existenzen gegenüberstehen. Viele flüchten vor Krieg, vor Verfolgungen und Naturkatastrophen. Andere sind mit vollem Recht auf der Suche »nach Chancen für sich und ihre Familien. Sie träumen von einer besseren Zukunft und wollen die Voraussetzungen dafür schaffen, damit diese wahr wird«.36

      38 Leider werden manche »von der Kultur des Westens angezogen und brechen mit teils unrealistischen Erwartungen auf, die schwer enttäuscht werden können. Skrupellose Menschenhändler, die oft mit Drogen- und Waffenkartellen in Verbindung stehen, nutzen die Schwäche von Migranten aus, die auf ihrem Weg immer wieder mit Gewalt, Menschenhandel, psychischem und physischem Missbrauch und unsagbarem Leid konfrontiert werden«.37 Diejenigen, die emigrieren, »erleben die Trennung von ihrem ursprünglichen Umfeld und oft auch eine kulturelle und religiöse Entwurzelung. Der Bruch betrifft auch die Gemeinschaften am Herkunftsort, die ihre stärksten Mitglieder mit der größten Eigeninitiative verlieren, sowie die Familien, insbesondere wenn ein oder beide Elternteile emigrieren und ihre Kinder in ihrem Herkunftsland zurücklassen«.38 Folglich muss auch »das Recht nicht auszuwandern – das heißt, in der Lage zu sein, im eigenen Land zu bleiben – bekräftigt werden«.39

      39 Obendrein »lösen in einigen Ankunftsländern Migrationsphänomene Alarm und Ängste aus, die oft für politische Zwecke angeheizt und missbraucht werden. Auf diese Weise verbreitet sich eine fremdenfeindliche Mentalität, man verschließt sich und zieht sich in sich selbst zurück«.40 Die Migranten werden als nicht würdig genug angesehen, um wie jeder andere am sozialen Leben teilzunehmen, und man vergisst, dass sie die gleiche innewohnende Würde besitzen wie alle Menschen. Daher müssen sie ihre eigene Rettung selbst in die Hand nehmen.41 Niemand wird behaupten, dass sie keine Menschen sind, in der Praxis jedoch bringt man mit den Entscheidungen und der Art und Weise, wie man sie behandelt, zum Ausdruck, dass man ihnen weniger Wert beimisst, sie für weniger wichtig und weniger menschlich hält. Es ist nicht hinnehmbar, dass Christen diese Mentalität und diese Haltungen teilen, indem sie zuweilen bestimmte politische Präferenzen über fundamentalste Glaubensüberzeugungen stellen. Die unveräußerliche Würde jedes Menschen unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religion ist das höchste Gesetz der geschwisterlichen Liebe.

      40 »Die Migrationen werden ein grundlegendes Element der Zukunft der Welt darstellen«.42 Heute werden sie jedoch »mit dem Verlust jenes Sinns für brüderliche Verantwortung, auf dem sich jede Zivilgesellschaft gründet«,43 konfrontiert. Europa beispielsweise läuft ernsthaft Gefahr, diesen Weg zu beschreiten. Immerhin besitzt es, »unterstützt durch sein großes kulturelles und religiöses Erbe, die Mittel […], um die Zentralität der Person zu verteidigen und um das rechte Gleichgewicht zu finden in seiner zweifachen moralischen Pflicht, einerseits die Rechte der eigenen Bürger zu schützen und andererseits die Betreuung und die Aufnahme der Migranten zu garantieren«.44

      41 Ich kann nachvollziehen, dass manche gegenüber den Migranten Zweifel hegen oder Furcht verspüren. Ich verstehe das als Teil des natürlichen Instinkts der Selbstverteidigung. Es ist jedoch auch wahr, dass eine Person und ein Volk nur dann fruchtbar sind, wenn sie es verstehen, die Öffnung gegenüber den anderen in sich selbst schöpferisch zu integrieren. Ich lade dazu ein, über diese primären Reaktionen hinauszugehen, denn »das Problem ist, dass diese unsere Denk- und Handlungsweise so weit konditionieren, dass sie uns intolerant, verschlossen und vielleicht sogar – ohne dass wir es merken – rassistisch machen.