In dieser Episode kommt ein Motiv vor, das Franziskus gern bei Treffen mit Jugendlichen anspricht: das Träumen. Immer wieder habe ich diese Aufforderung bei den zahlreichen Jugendtreffen im Rahmen von Papstreisen rund um den Globus gehört: Hört nicht auf zu träumen! »Verwandelt die Träume von heute in die zukünftige Wirklichkeit«, so Franziskus etwa zu den italienischen Jugendlichen. »Die großen Träume sind jene, die Fruchtbarkeit schenken. Sie sind in der Lage, Frieden zu säen, Geschwisterlichkeit zu säen, Freude zu säen.« Genau das will Papst Franziskus mit »Fratelli tutti« erreichen. Er träumt einen großen Traum, der als Fruchtbarkeit Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit säen will.
Inspiriert von Franz von Assisi
In den ersten Reaktionen auf die neue Enzyklika ist immer wieder vom »Traum« des Papstes die Rede, von einer großen »Utopie«, die er vorlege. Manche Kritiker machten auch schnell Dinge aus, die »utopisch« seien, fern der Realität. Eine Enzyklika ist kein Handbuch, das als Nachschlagewerk für eine bessere Welt dienen kann. Aber sie gibt Grundlinien vor, stößt zum Nachdenken an und setzt auch Grenzen, die aus Sicht des Papstes nicht überschritten werden dürfen. Dazu gehören etwa die klare Absage an einen national-egoistischen Populismus, den er als für Christen »nicht hinnehmbar« geißelt, sein klares Nein zur Todesstrafe, das er ausführlich begründet, die Verurteilung der Atomwaffen oder die Abkehr von der Lehre des »gerechten Krieges«, die er für nicht mehr vertretbar hält.
Der Papst spricht im Vorwort zu seiner Enzyklika von einem Traum, der ihn inspiriert hat. Es ist das Wirken des heiligen Franz von Assisi, dessen Namen Jorge Mario Bergoglio nach seiner Wahl zum Oberhaupt der katholischen Kirche im März 2013 angenommen hat und der ihn seit den ersten Tagen seines Pontifikats inspiriert. Schon die letzte Enzyklika »Laudato si’ – über die Sorge für das gemeinsame Haus« trägt als Titel ein Zitat des Heiligen aus Assisi. »Er führte keine Wortgefechte, um seine Lehren aufzudrängen, sondern teilte die Liebe Gottes mit. Er hatte verstanden: ›Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm‹ (1 Joh 4,16). Auf diese Weise wurde er zu einem liebevollen Vater, der den Traum einer geschwisterlichen Gemeinschaft verwirklichte«, schreibt der Papst über den Heiligen (FT 4). »Ich lege diese Sozialenzyklika als demütigen Beitrag zum Nachdenken vor. Angesichts gewisser gegenwärtiger Praktiken, andere zu beseitigen oder zu übergehen, sind wir in der Lage, darauf mit einem neuen Traum der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft zu antworten, der sich nicht auf Worte beschränkt« (FT 6).
Wenn an vielen Stellen geschrieben wird, »Fratelli tutti« sei die Antwort des Papstes auf die Corona-Krise, dann stimmt das nicht ganz. Franziskus hatte schon mit dem Schreiben begonnen, als im Frühjahr 2020 die Pandemie ausbrach und »unsere falschen Sicherheiten offenlegte« (FT 7). In der Folge »kam klar die Unfähigkeit hinsichtlich eines gemeinsamen Handelns zum Vorschein« (ebd.). Angesichts dieser Situation sieht sich Franziskus in seiner Analyse und in seinem Ruf zur Umkehr bestätigt. Corona hat, so könnte man die Position des Papstes zusammenfassen, die Systemfehler der bisherigen Weltordnung, die er seit langer Zeit anprangert, schonungslos offengelegt.
Geschwisterlichkeit unter den Religionen
800 Jahre, nachdem Franz von Assisi bei einem Besuch in Ägypten Muslime getroffen hat und einen Dialog mit Sultan Malik-al-Kamil führte, der den Bettelmönch zutiefst beeindruckte, reiste Papst Franziskus im Februar 2019 ins Herz der arabischen Welt. In Abu Dhabi unterzeichnete er mit dem Großimam Ahmad Al-Tayyeb, einem der führenden Geistlichen des sunnitischen Islams, das »Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt«. Die Begegnungen mit dem Leiter der Al-Azhar-Universität und das gemeinsame Dokument waren für den Papst Anstoß für die neue Enzyklika.
Dabei sind die Inhalte des vorliegenden Lehrschreibens nicht neu. Doch wie in einem Brennglas fügt Franziskus in »Fratelli tutti« seine Ideen von einer neuen Weltordnung zusammen, die allen Menschen ein Leben in Würde ermöglicht, in der alles Handeln in der Perspektive des »Wir« und nicht des »Ich« vollzogen wird. Der Schulterschluss mit dem Großimam und damit einem der maßgeblichsten Gelehrten für die Sunniten – 85 Prozent der Muslime weltweit – legte für den Papst die Basis für den neuen Entwurf einer geschwisterlichen Welt. Dass die Enzyklika sich in dieser Weise auf eine Autorität des Islams bezieht, ist eine Neuheit. Am Ende des Lehrschreibens zitiert Franziskus zentrale Passagen des Dokuments von Abu Dhabi und übernimmt so eine interreligiöse Erklärung in das Lehramt der katholischen Kirche. Damit forciert er die Rezeption auf katholischer Seite und nimmt die muslimischen Partner in die Pflicht. Beide Seiten müssen umsetzen, was sie 2019 in dem Dokument versprochen haben und was Franziskus jetzt als inhaltlichen Schlusssatz unter seine Enzyklika setzt: »Im Namen Gottes und all des eben Gesagten […] [nehmen wir] die Kultur des Dialogs als Weg, die allgemeine Zusammenarbeit als Verhaltensregel und das gegenseitige Verständnis als Methode und Maßstab [an]« (FT 285).
Kultur der Begegnung
Die Kultur des Dialogs und der Begegnung gehört zu den zentralen Elementen des Pontifikats von Papst Franziskus. »Das Leben ist die Kunst der Begegnung, auch wenn es so viele Auseinandersetzungen im Leben gibt«, zitiert er in »Fratelli tutti« (215) den brasilianischen Dichter Vinícius de Moraes (1913–1980), um dann zu dem Schluss zu kommen: »Von einer ›Kultur der Begegnung‹ zu sprechen bedeutet also, dass wir uns als Volk für die Idee begeistern, zusammenzukommen, Berührungspunkte zu suchen, Brücken zu schlagen, etwas zu planen, das alle miteinbezieht« (FT 216). Franziskus will als Pontifex – als Brückenbauer – agieren. Diese Idee liegt der Enzyklika zugrunde. Der Papst verurteilt die Tendenzen, neue Mauern aufzubauen etwa im Umgang mit Migranten; er verurteilt die Ausgrenzung der Bedürftigen, der Alten, ja ganzer Länder mit Blick auf das vorherrschende Weltwirtschaftssystem und versucht, mit dem Modell der »Zivilisation der Liebe« Brücken zu bauen innerhalb der einzelnen Nationen, aber auch weltweit. »Isolierung: nein; Nähe: ja. Kultur der Konfrontation: nein; Kultur der Begegnung: ja« (FT 30).
Dabei ist Franziskus nicht naiv. Dialog und Begegnung bedeuten nicht, dass er oberflächlichen Freundlichkeiten das Wort redet. Im sechsten Kapitel beschäftigt er sich eingehend mit »Dialog und sozialer Freundschaft«. »Der echte Dialog innerhalb der Gesellschaft setzt die Fähigkeit voraus, den Standpunkt des anderen zu respektieren und zu akzeptieren, dass er möglicherweise gerechtfertigte Überzeugungen oder Interessen enthält« (FT 203). Unterschiede, so Franziskus kurz zuvor, brächten zwar Konflikte hervor, »die Einförmigkeit jedoch erstickt und bewirkt, dass wir uns kulturell selbst vernichten« (FT 191). Aus diesem Grund fordert er nicht nur einen »integrativen Sozialpakt«, sondern auch einen Kulturpakt, »der die unterschiedlichen Weltanschauungen, Kulturen oder Lebensstile, die in der Gesellschaft nebeneinander bestehen, respektiert und berücksichtigt« (FT 219). Das Ganze mündet dann in der Vorstellung des Polyeders als des geeignetsten Gesellschaftsmodells. »Der Polyeder stellt eine Gesellschaft dar, in der die Unterschiede zusammenleben, sich dabei gegenseitig ergänzen, bereichern und erhellen, wenn auch unter Diskussionen und mit Argwohn« (FT 215). In diesem Sinn ist dann auch eine Zusammenarbeit der Glaubenden verschiedener Religionen möglich sowie ein gemeinsames Handeln mit den Nichtglaubenden.
Der Titel irritiert
Im Vorfeld der Veröffentlichung gab es heftige Diskussionen über den Titel der Enzyklika. Grenzt »Fratelli tutti« die Frauen aus? Hätte der Papst nicht einen gendersensibleren Titel wählen müssen? Niklaus Kuster, Kapuziner und Experte für franziskanische Spiritualität, betont, dass der wahre Adressat