Die Journalisten folgten ihm mit den Mikrofonen und die Fotografen gingen seitwärts wie Krabben nebenher. Aber sie schafften es nicht, besonders viele Bilder von ihm zu machen, bevor er sein Auto erreichte, sich hineinsetzte, die Tür fest zuknallte, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob jemand ein Mikrofon oder eine Nase dazwischen hatte, und wegfuhr.
»Shit!«, fluchte Anne. Die Chance war verpasst. Sie lehnte sich gegen die Mauer des gegenüberliegenden Gebäudes, das mit Graffiti übersät war, zündete sich eine Zigarette an und wartete im Sonnenschein. Es konnte lange dauern, bis sie mit den technischen Untersuchungen fertig waren, vielleicht mehrere Tage, aber irgendwann musste das Opfer hinausgetragen werden. Die anderen Journalisten telefonierten, einige bekamen anscheinend andere Aufträge und zogen still ab. Zum Schluss waren nur noch sie und ein verschwitzter und übergewichtiger anderer Journalist da, und sie beäugten sich, wie es Konkurrenten nun einmal tun, aber sie wechselten kein Wort. Nach einer halben Stunde bekam auch er einen Anruf und trollte sich. Die Rechtsmedizinerin kam eine Weile danach aus dem Haus. Anne drückte schnell Zigarette Nummer zwei an der Mauer aus und eilte zu ihr hin.
»Ich soll von Nicolaj grüßen«, sagte sie keck.
Die Rechtsmedizinerin war dabei, ihren weißen Schutzanzug auszuziehen und schaute sie prüfend an. Ihre Augen waren blau mit türkisfarbenen Sprenkeln, die im Sonnenlicht funkelten. Ihre Haare waren kurz, blond und von der Sonne gebleicht. Einen kleinen Augenblick überlegte Anne, wie sie und Benito miteinander auskamen.
»Ich kenne keinen Nicolaj«, sagte sie abweisend und fing an, ihre Sachen ins Auto zu laden.
Anne traute sich nicht, weiter zu drängen, sie war sich unsicher, ob sie wirklich Nicolajs Kontakt gegenüber stand. Aber falls, hatte sie ihr viel zu verdanken.
»Ich komme von den Freelance Journalisten, da, wo auch Nicolaj arbeitet«, versuchte sie es trotzdem.
Die Rechtsmedizinerin schaute sie wieder an. »Wie gesagt kenne ich keinen Nicolaj und ich äußere mich nicht zu dem Fall. Sie müssen mit der Polizei sprechen.« Der Blick war abweisend, aber dennoch neugierig, es war, als ob sie sich Annes Gesicht einprägen wollte. Sie brauchte sehr lange, um ihr Auto zu beladen, und behielt die ganze Zeit das Gebäude im Auge, wo die Bänder in einer plötzlich aufkommenden sommerlichen Brise flatterten. Als ein Techniker mit einer Kamera in der Hand aus der Tür kam und die Kapuze abzog, sodass ihm das halblange Haar über die Stirn fiel, nahmen ihre Augen einen anderen Ausdruck an.
»Wie gesagt müssen Sie mit der Polizei sprechen. Die halten sicher bald eine Pressekonferenz ab«, sagte sie mit einem schnellen Lächeln und setzte sich in ihr Auto. Anne sah, wie sie sich vorbeugte und mit dem Techniker durch das heruntergelassene Fenster sprach, kurz darauf setzte er sich auf den Beifahrersitz. Sie fuhren weg.
Anne knipste einige weitere Bilder von dem Gebäude. Wenn sie den Kopf in den Nacken legte, erwischte sie ab und zu einen kleinen Schimmer eines Schutzanzugs eines der Techniker am Fenster. Sie machte auch ein Bild des Krankenwagens mit getönten Scheiben, der langsam auf sie zukam. Fast schleichend, als ob er nicht gesehen werden wollte. Zwei Beamte dirigierten ihn an den Schaulustigen vorbei, die immer noch da waren. Aber Anne schaffte es nicht, Fotos von der Bahre zu machen, die in den Krankenwagen gehoben wurde, immer stand jemand im Weg. Sie hatte nicht übel Lust, die Gaffer brutal wegzuschubsen, sodass sie ihre Arbeit machen konnte, die schließlich wichtiger war als deren kranke Neugierde. Warum konnten die nicht einfach später darüber im Internet oder der Zeitung nachlesen, wo sie alle Details mitbekommen konnten? Aber dann war auch diese Chance passé und der Krankenwagen fuhr genauso langsam weg, wie er gekommen war. Jetzt bewachte keiner mehr die Eingangstür, und Anne eilte, ohne nachzudenken, zum Hauseingang. Schnell fand sie den Namen der Bewohnerin im vierten Stock rechts. Tanja Borg. Sie lächelte zufrieden. Jetzt gab es etwas, das sie ausgraben und worüber sie in der Redaktion schreiben konnte.
11
»Gleiche Vorgehensweise. Kein Einbruch, gefesselt und grob misshandelt. Auch eine junge Studentin.«
Roland heftete die Fotos vom Tatort mit Magneten an die Tafel und machte das Fenster weiter auf. Er öffnete auch einen weiteren Knopf seines kurzärmligen Hemds, bevor er sich gegenüber von Isabella, Mikkel und Kim niederließ, die den Fall von Kurt Olsen zugeteilt bekommen hatten, der selbst zur Pressekonferenz gegangen war. Um die verschwundene Leiche kümmerten sich jetzt andere Kollegen. »Warum sie wohl so daliegt?«, fragte Isabella heiser.
»Der Täter hat diese Stellung arrangiert«, sagte Roland, der auf eine Reaktion gewartet hatte. Die rechte Hand des Mädchens lag im Schoß und bedeckte ihr Geschlechtsteil, die andere lag auf der linken Brust.
»Keuschheit?«, schlug Kim vor. »Sie versucht, sich zu bedecken.«
»Warum sollte ein Vergewaltiger sie in eine solche Stellung legen?«
»Vielleicht weiß er das nicht mal selbst, Isabella«, meinte Mikkel.
»Vielleicht ein Anzeichen von Reue? Er will sie zudecken. Verbergen, was er getan hat«, war Isabellas Vorschlag.
»Wir wissen es nicht. Es kann Zufall sein und vielleicht nichts zu sagen haben. Leider hat er keine Fingerabdrücke hinterlassen.« Roland öffnete ein Mineralwasser, es war eiskalt. Die Flasche war beschlagen. Er wollte sie gegen seine Stirn pressen. Die Kohlensäure zischte, als er ins Glas einschenkte.
»Ist es das gleiche Seil wie das, mit dem Maja gefesselt war?«, fragte Kim. »Weiß die Kriminaltechnik, welches?«
»Eine harte Sorte. Vielleicht Nylon.«
»Wer benutzt wohl Nylonseile?«, dachte Mikkel laut.
»Die meisten. Viele Handwerker und Fischer«, informierte Kim.
»Das untersuchst du, Kim.« Roland nahm ihn sofort beim Wort. Er war ohnehin am besten in dieser Art Geduldsaufgabe.
»Wir sind ja alle Händler durchgegangen, als wir im Gitte-Mord ermittelt haben«, erinnerte sich Kim. »Kann man diese Informationen nicht vielleicht gebrauchen, wenn ich sie finde?«
»Das war kein Nylonseil, das war ein Manilaseil, das ist ein Naturprodukt, das ist nicht das gleiche«, stellte Mikkel fest.
Einen Augenblick lang wurde es am Tisch ganz still. Nur Isabella sah unbeeindruckt aus, registrierte aber den Stimmungsumschwung und schaute sie fragend an. Damals, als das kleine Mädchen erwürgt in einem Müllcontainer in Brabrand gefunden worden war, war sie noch nicht dabei gewesen. Es war das Puppenkind genannt worden.
Mikkel studierte die Fotos der beiden jungen Frauen. Roland hatte sie an die weiße Tafel geheftet und ihre Namen in blau darunter geschrieben. Maja Andersen und Tanja Borg.
»Zwischen den beiden Mädchen gibt es ja keine Ähnlichkeiten. Die eine ist blond und geschminkt, die andere brünett und natürlich. Aber sie haben beide kurze Haare. Ganz gewöhnliche Typen, die nicht besonders aus der Menge hervorstechen.« Mikkel war derjenige, der das Thema wechselte.
»Hast du zu viele Krimis über Serienmörder geguckt? Das gab es hier in Dänemark noch nicht, dass ein Geisteskranker aufgrund irgendeines Kindheitstraumas oder einer dominanten Mutter ausschließlich blonde oder brünette Frauen ermordet.«
Kim sagte das mit einem kleinen, trockenen Lächeln, so etwas sah man in seinem stets souveränen und ernsten Gesicht sonst eher selten.
»Das gab es noch nicht, meinst du! Irgendwann ist ja immer das erste Mal. Vielleicht ist die Art, wie sie positioniert ist, seine Signatur«, gab Mikkel zurück.
»Das hier darf unter keinen Umständen an die Presse kommen. Fangen sie erstmal an über einen mutmaßlichen Serienmörder in Aarhus zu schreiben, wird sich selbst die Weltpresse für den Fall interessieren. Serienmord ist eine Riesenneuigkeit hier im Norden. Aber Mikkel ist da an was dran. Wir müssen herausfinden, ob die beiden Mädchen etwas gemeinsam haben, das uns auf die Spur des Täters bringen kann. Wenn es nicht ihr Aussehen ist, kann es etwas Anderes sein. Ein gemeinsamer Sport, ein Hobby, Kurs oder so etwas. Zwischen ihren Wohnungen liegen nicht mehr als circa sechshundert Meter. Sie