Der Mann, der alles sah. Deborah Levy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Deborah Levy
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311701668
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Schoß zu haben. Wenn es doch ein Feuer gab, sollte ich ihm vielleicht das Leben retten? Ich konnte tatsächlich etwas Beißendes, Bitteres riechen, aber war es Rauch?

      Ich hatte noch mehr Gedanken über den hübschen Jack beizutragen.

      Ich nahm die Hundepfote und drückte sie. Nachdem Jack meine Muscheln gegessen hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit der Rechnung zu, die jetzt auf einer Untertasse gekommen war. Er prüfte sie, und statt den Preis durch zwei zu teilen, bestand er darauf, dass ich das Extra-Brot bestellt hätte, das man uns nun berechnete, weshalb ich es bezahlen sollte, obwohl er auch davon gegessen hatte. Gleichzeitig beäugte er ein Stück Zitronentorte, das ein Mann, der allein am Nachbartisch saß, auf seinem Teller übrig gelassen hatte. Jack wollte hinüberlangen und es auch noch verschlingen. Als er mich verschwörerisch anblickte, fragte ich mich, warum er so wenig liebenswert war. Ich glaube, diese Frage beschäftigte mich, als ich die Wand mit der Faust abklopfte. Die offensichtliche Antwort lautete: weil Jack selbst lieblos war. Ich hatte die Wand befragt, und die hatte auf ihre Art geantwortet. Ich war plötzlich besorgt, dass Jennifer glauben könnte, ich wäre kein liebenswürdiger Mensch. Jack hatte sich nach unserer Mahlzeit zu einem Tennisspiel verabredet. Er erzählte mir, dass er ein paar Extrastunden bei einem Trainer genommen hatte, um seinen Aufschlag für dieses spezielle Match zu vervollkommnen. Ich konnte nicht herausfinden, warum er vor einem Tennisspiel eine große Mahlzeit herunterschlang, aber er war sehr dünn. Ich vermutete, dass er selbst das Kind war, das er so verurteilte. Ein Kind, das aufgepäppelt werden musste.

      Mittlerweile war es möglich, dass der Wohnblock in Flammen stand, während ich auf dem Sofa saß und einen illegalen Hund streichelte. Ich stand auf und setzte den Pudel auf dem Boden ab. Er gab einen unwilligen Laut von sich, als ich die Tüte mit dem Brie aufhob und die Wohnungstür zuwarf. Ich hinkte die Treppe wieder hinunter, konnte aber keinen Rauch riechen. Alle standen dicht gedrängt vor dem Haus beisammen und zeigten auf verschiedene Fenster. Sie waren erleichtert zu erfahren, dass Mrs Stechler das Heizgerät nicht angelassen hatte. Ich sagte ihr, dass jemand sie angerufen habe.

      Sie nahm ihre dicke Brille ab und sah verwirrt aus.

      »Das glaube ich nicht. Mein Telefon wurde abgestellt.«

      Sie blies auf ihre Brillengläser, nahm dann ihren Kleidersaum hoch und wischte sich über die Augen.

      »Übrigens bin ich auch jüdisch«, sagte sie. »Ich wurde in Krakau geboren.«

      Der Ingenieur tippte mir auf die Schulter.

      »Vielen Dank, dass Sie sich um die Sicherheitskontrolle gekümmert haben, Mr Adler«, sagte er ernsthaft. »Das hat uns beruhigt.«

      Ich überlegte, warum Mrs Stechler Handschuhe trug und welches Gespenst sich darunter verbarg, aber ich wollte nicht darüber nachdenken, deshalb rannte ich über die Straße und rief Jennifer vom Münzfernsprecher an der Ecke aus an.

      »Wie geht’s, Jennifer?«

      »Warum rufst du mich an?«

      »Weil die Feuerwehrleute streiken.«

      »Wer sagt, dass die Feuerwehrleute streiken? Davon höre ich jetzt zum ersten Mal.«

      In der Hand hatte ich die Tüte mit dem schmelzenden Brie. Jennifer sprach freundlich und sachlich, als hätte sie meinen Heiratsantrag nicht abgelehnt und mich, nachdem sie meinen Körper benutzt hatte, nicht mehr oder weniger aus ihrem Bett geworfen, noch beschädigt und blutend von dem Unfall.

      »Die Fotos sind gut geworden, wie?« Sie fing an, über Licht und Schatten zu reden und über den Winkel, aus dem sie fotografiert hatte, und dass auf dem Originalfoto der echten Beatles für das Album Abbey Road ein amerikanischer Tourist, der zufällig gerade dort gewesen war, unter einem Baum gestanden habe. Ich schaute auf die Tüte mit dem in ihr dahinschmelzenden Stück Brie. An der rechten Ecke der Tüte schien eine Art Botschaft zu stehen.

      »Geht es dir gut, Saul?«

      Der Verkäufer mit den sanften Händen hatte den Preis für den Käse mit Kuli darauf geschrieben und ihn zweimal unterstrichen.

      »Nein, mir geht es nicht gut, ganz und gar nicht.«

      »Die Sache ist die, Saul Adler: Verpiss dich.«

      »Die Sache ist die, Jennifer Moreau: Genau das werde ich tun.«

      Als ich an diesem Abend meine Tasche für Ostberlin packte, stellte ich fest, dass ich vergessen hatte, die Dose Ananas zu kaufen.

      6 Ostberlin, September 1988

      Mit Walter Müller lachte ich viel. Es war eine Erleichterung, die Zeit mit jemandem zu verbringen, dessen Leben sich nicht um materiellen Gewinn drehte. Walter beherrschte mehrere Sprachen. Er unterrichtete Ostdeutsche, die vorhatten, in anderen sozialistischen Ländern zu arbeiten, in osteuropäischen Sprachen und sprach auch fließend Englisch. Ich mochte ihn auf Anhieb, als ich ihn im Bahnhof Friedrichstraße auf mich warten sah. Er stand am Bahnsteigende und hielt eine Pappe mit meinem Namen darauf hoch. Er war ungefähr dreißig, hochgewachsen, mit schulterlangem mattbraunem Haar, blassblauen Augen, breiten Schultern. Muskulös. Sein Körper strahlte eine gewisse Energie aus, eine Vitalität, die entspannt und doch aufregend war. Ich berichtete ihm von meiner albtraumhaften Zugfahrt zum britischen Flughafen, wie dem Zug der Kraftstoff ausgegangen war und ich auf einen Ersatzbus hatte warten müssen. Walter Müller schüttelte auf leicht spöttische Weise den Kopf, um die Tiefe seines Mitgefühls zum Ausdruck zu bringen. Offenbar ruderte ich seiner Ansicht nach im seichten Bereich der Lebensprobleme.

      »Das ist eine sehr schlechte Verkehrspolitik Ihres Landes.«

      Er führte mich aus dem Bahnhof Friedrichstraße und fragte, ob ich zur Wohnung seiner Mutter laufen oder lieber mit der Straßenbahn fahren wolle. Ich erklärte mich einverstanden, zu laufen. Sein Englisch war steif, ein wenig verkrampft, und bildete einen Kontrast zu dem Selbstvertrauen und der Energie in seinem Körper.

      »Das ist unsere Stadt an der Spree«, sagte er und deutete in Richtung des Flusses. Wir liefen am grauen Wasser der Spree entlang, vorbei am Theater des Berliner Ensembles, gegründet von Brecht, der während der Nazizeit im Exil gewesen war. Er hatte in mindestens vier Ländern gelebt, die ich für Walter aufzählte.

      »Schweden, Finnland, Dänemark, schließlich Amerika.«

      »O ja, Brecht«, sagte Walter. »Wussten Sie, dass Bruce Springsteen im Juli hier ein Konzert gegeben hat? Er hat drei Stunden lang gespielt.« Er korrigierte sich. »Nein. Vier Stunden.«

      Ich wusste, dass Brecht von der Obrigkeit mit Misstrauen betrachtet worden war, weil er sich entschieden hatte, in Amerika zu leben, nicht in der Sowjetunion. Dennoch war er nach Ostdeutschland zurückgekehrt, um seine Stücke zu schreiben, in der Hoffnung, eine Rolle beim Aufbau eines neuen sozialistischen Staates zu spielen. Anscheinend interessierte ich mich mehr für Brecht als mein Dolmetscher, deshalb erzählte ich ihm nicht, dass ich den ganzen Text der Dreigroschenoper (»eine Oper für Bettler«) auswendig kannte und in der Badewanne oft »Surabaya Johnny« sang. Ich schaute hinunter auf zwei weiße Schwäne, die Seite an Seite auf der Spree schwammen.

      »Schwäne leben gern zusammen«, sagte ich. »Sie gehen starke Bindungen ein.«

      Walter bemühte sich, Interesse vorzutäuschen. »Besten Dank für die Information.« Seine Stimme war ernsthaft, doch seine Augen lachten.

      Wie Walter mir erzählte, war er gerade aus Prag zurückgekehrt, wo er für Kameraden, die einen Ingenieurkurs belegten, vom Tschechischen ins Deutsche übersetzt hatte. Als ich ihm dafür dankte, dass er mich vom Bahnhof abgeholt hatte, obwohl er gerade erst von seiner eigenen Reise heimgekehrt war, lachte er. »Dieser Spaziergang mit Ihnen ist ein Glücksfall. Ich kann etwas Nützliches tun, Sie zum Beispiel zu einem Bier einladen.« Eine Fliege summte vor seinen Lippen herum. Er wedelte sie fort und stampfte dann mit dem Stiefel auf, um sie zu verscheuchen.

      »Magie.« Er lachte und stampfte wieder mit dem Stiefel auf.

      »Magie«, wiederholte ich. Ich wusste nicht, was vor sich ging oder warum er lachte.

      »Was