Der Mann, der alles sah. Deborah Levy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Deborah Levy
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311701668
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und hinter dem Pförtnerplatz verstaut hatte. Durch die Glastüren sah ich sie in ihrem Pelzmantel, wie sie flotten Schrittes in Richtung Bushaltestelle ging. War nicht die Rede davon gewesen, dass die Arthritis sie behindere?

      Ich legte die Fotos in meinen Briefkasten zurück, schloss ihn ab und lief zu meinem nächsten Supermarkt, um die Dose Ananas für Walter Müller zu kaufen. Was würde Jennifer heute machen? Wahrscheinlich kümmerte sie sich um ihr Flugticket nach Amerika. Natürlich wäre sie in der Dunkelkammer des College und bereitete ihre Abschlussausstellung vor, und später, viel später, würde sie mit Saanvi und Claudia in der Sauna faulenzen, Gespräche über die Unendlichkeit führen und darüber, wie ein manisch-depressiver Mathematiker namens Georg Cantor eine Möglichkeit entdeckt hatte, unendliche Zahlen zu notieren. Inzwischen versuchte ich herauszufinden, ob ich Dosenananas in Ringen oder Stücken, in Sirup oder Saft kaufen sollte. Am Ende kaufte ich zwei Bananen, ein Baguette, ein Steak und lungerte schließlich vor der Käsetheke herum. Allmählich verspürte ich ein wenig Sympathie für die Floristin, die nur Rosen verkaufte. Wenn es unendlich viele Rosen zur Auswahl gab, dann traf auf Käse dasselbe zu. Shropshire Blue, Stilton, Farmhouse Cheddar, Lancashire, Red Leicester, Gouda, Emmentaler.

      Ich bat den Verkäufer, mir eine große Ecke schmelzenden Brie abzuschneiden. Es tropfte von seinem Messer. Er hatte sanfte Hände.

      Der Himmel war genauso grau wie der Gehsteig. Es hatte angefangen zu regnen. Ein Mann in einem afrikanischen Gewand kämpfte mit einem kaputten Schirm, während der Regen über seine Sandalen spritzte. Ich begab mich für ein Glas Tee und ein Baklava-Gebäck in ein türkisches Café. Das Gebäck war klebrig von Honig. Ich bat um eine Serviette, doch die mich bedienende Frau schien meine Bitte nicht zu hören. Sie ging zu einem kleinen Mädchen, vielleicht sieben Jahre alt, das an einem Nachbartisch ein Buch las, und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Ich dachte, sie bäte das Kind, mir eine Serviette zu bringen, doch sie ordnete eines der roten Bänder im Zopf ihrer Tochter.

      »Die Sache ist die, Saul Adler: Du bist nicht immer der Mittelpunkt.«

      Die Sache ist die, Jennifer Moreau: Du hast mich zum Mittelpunkt gemacht.

      5

      In meinem Wohnblock ging irgendetwas vor. Menschen liefen in Panik aus dem Gebäude. Der Ingenieur, der im dritten Stock wohnte, schrie etwas von einem Feuer. Ich konnte keinen Brandgeruch wahrnehmen. Es gab ein Gerücht, dass die Feuerwehrleute streikten, obwohl es nicht offiziell bekannt gegeben worden war. Der Vermieter hatte uns geraten, für alle Fälle einen Eimer Sand bereit zu halten und auch die Stecker der nicht benötigten elektrischen Geräte aus der Steckdose zu ziehen. Mrs Stechler kehrte mit dem angekündigten Mohnkuchen zurück, doch die Plastiktüte in ihren behandschuhten Händen war durchsichtig, und ich meinte, blutige Fleischstücke darin zu erkennen. Als sie ihren Rollator im Hausflur abholte, erzählte sie mir, sie glaube, ob sie ihren Toaster nicht aus der Steckdose gezogen habe, außerdem sei sie nicht sicher, dass sie ihren Heizstrahler ausgeschaltet habe. Warum sollte sie im September ihren Heizstrahler in Betrieb nehmen? Ich erklärte mich bereit, in ihre Wohnung hochzugehen und nachzuschauen. Unter den anderen vor dem Gebäude versammelten Mietern gab es eine Debatte darüber, ob das so klug sei. Es wurde entschieden, wenn es ein Feuer gebe, solle ich es nicht riskieren, würde ich jedoch darauf bestehen, so rieten sie mir, wenigstens nicht den Fahrstuhl zu benutzen.

      »Er möchte sterben, also lasst ihn.« Mrs Stechler lächelte tatsächlich, als sie mir ihre Wohnungsschlüssel übergab. Das war das erste Mal, dass ich sie vergnügt sah.

      Ich rannte die fünf Treppen nicht hoch; ich ging langsam, weil ich vom Sturz auf der Abbey Road noch hinkte. Als ich ihre Tür aufschloss, bemerkte ich kein Anzeichen von Rauch. In ihrer Wohnung war alles abgeschaltet. Ein schweres schwarzes Telefon war mitten auf dem Teppich platziert. Ein seltsamer Ort für ein Telefon, besonders, wenn sie Arthritis hatte und sich nicht ohne Mühe bücken konnte. Ich folgte der Schnur und sah, dass sie in die Wandsteckdose hinter dem Fernseher führte. Ich ballte die Hand zur Faust und fing an, die Wand abzuklopfen. Ich war nicht sicher, was ich finden wollte, falls ich nach etwas suchte. War die Wand hohl oder solide? Wollte ich das wissen? Ich klopfte wieder. Als würde diese Handlung mir ein Gefühl von Wichtigkeit verleihen, was mich sofort zu der Frage führte, ob ich mich sonst unwichtig fühlte. Kamen sich die Stasi-Leute wichtig vor, wenn sie die Wände mit den Fäusten abklopften? Das Telefon läutete, und ich nahm den Hörer ab.

      »Hallo. Bei Mrs Stechler.«

      »Wer ist am Apparat?«

      »Saul. Ich bin ein Nachbar.«

      »Isaac.«

      Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte meine Brust.

      »Mrs Stechler ist nicht zu Hause. Kann ich etwas ausrichten?«

      »Saul wer?«

      Die Worte Saul wer? entsetzten mich, ließen Furcht und Bedauern in mir aufsteigen.

      Dennoch bemühte ich mich, deutlich und sanft in das Telefon zu sprechen.

      »Saul Adler.«

      Ich brachte kaum ein Wort heraus.

      Ich stellte fest, dass mein Herz gebrochen war. Die Wal-Mart-Tragetasche, die der Wind auf der Abbey Road herangeweht hatte, war mit dem Amerika einer anderen Zeit verbunden, und der Name Isaac war auch mit Amerika verbunden.

      Die Verbindung war abgebrochen.

      Ganz in meiner Nähe atmete jemand.

      Ich drehte mich um und blickte direkt in die erschrockenen Augen eines Tieres. Ein schwarzer Pudel war auf die Lehne des Sofas gesprungen. Seine Augen waren feucht, und das Tier winselte. Mietern war es nicht gestattet, Tiere in den Wohnungen zu halten. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Mrs Stechler einen Hund hatte. Ihr Kauf von rohem Fleisch anstelle von Mohnkuchen ergab jetzt einen Sinn.

      Ich saß auf dem Sofa und hielt den Pudel im Arm. Das Telefon läutete wieder. Während ich den warmen Kopf des Hundes streichelte, wurde ich ruhiger. Unser Atmen hatte sich irgendwie synchronisiert; wir atmeten zusammen, während wir darauf warteten, dass das Telefon zu klingeln aufhörte. Es war sehr beruhigend, den Hund im Arm zu halten und gleichzeitig mit ihm zu atmen.

      Ich hatte Hunger. Einen Bärenhunger. Vielleicht hatte ich seit dem Fast-Zusammenstoß auf der Abbey Road zu essen vergessen. Als ich in einer vermeintlich kritischen Situation (dem vermuteten Feuer) auf dem schildkrötengrünen Sofa saß, musste ich an meinen Freund Jack denken, der mir gesagt hatte, er wolle nie Kinder haben. Jack hielt Eltern für seltsame Wesen, die mit komischer Stimme zu ihren Kindern sprachen, und er wollte sowieso stets im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, besonders der sexuellen Aufmerksamkeit seiner Lover. Keinesfalls sollte ihm diese Aufmerksamkeit durch die Bedürfnisse eines Kindes oder die nun kein Ende nehmenden Bedürfnisse des entfremdeten Elternteils gestohlen werden.

      Ich hatte ihm von Herzen zugestimmt. Jack war zehn Jahre älter als ich, wirkte aber jünger als seine achtunddreißig Jahre. Er trug modische Leinenjacketts und schwarze Teenager-Sneaker, und dieser Look hat mir immer gefallen.

      Ich war mir nicht so sicher, dass ich das an dem Tag dachte, an dem wir in einem französischen Bistro in West London Miesmuscheln mit Pommes frites aßen. Bei diesem Lunch war ich mir bewusst, dass wir uns selbst für kultivierte, niveauvolle, gutaussehende Männer hielten, den erschöpften Vätern überlegen, die vielleicht lange keinen Sex gehabt hatten. Oder jedenfalls nicht mit ihren erschöpften Partnerinnen.

      Aber selbst da glaubte ich mir selbst nicht ganz, als ich Jack zustimmte. Obwohl er witzig und amüsant war, mangelte es ihm irgendwie an Gefühl. Das sagte ich laut zu dem Hund, der jetzt auf meinem Schoß schlief.

      »Es mangelte ihm irgendwie an Gefühl.«

      Als Jack zu meinem Teller Muscheln herübersah, stellte er fest, dass ich einige davon nicht gegessen hatte. Er fragte, ob er sie für mich wegputzen könne, so als würde er mir damit einen großen Gefallen tun. Ich schob meine Schüssel in seine Richtung, sah zu, wie er alles verschlang, die Schalen ausschlürfte und sehr schnell kaute – er glaubte, dieses Schlürfen meiner Essensreste mache ihn besonders liebenswert. Was merkwürdig