Ich winkte ihr zu. Sie reagierte nicht, ihr Gesicht war eine steinerne Fassade. Ich begriff plötzlich, dass es gefährlich für sie sein könnte, Kontakt zu Leuten aus dem Westen zu haben. Jemand würde berichten, dass sie zurückgewinkt hatte. Ich konnte keine Bettler oder Junkies oder Zuhälter oder Diebe oder irgendjemanden entdecken, der auf der Straße schlief. Doch der Ausdruck ihrer Augen prägte sich mir ein, wie auch ihre roten Lippen. Würde es mir lieber sein, dass man mir meine Brieftasche stahl, wenn das bedeutete, dass ich einen Fremden ohne Angst begrüßen durfte? Sie und Walter schienen sich zu kennen, weil er sie auf die Wange küsste und sie ihm einen Blumenkohl gab. Walter holte ein rotes Netz aus seiner Manteltasche. Er ließ den Blumenkohl in das Netz fallen und warf es sich über die Schulter.
»Glück gehabt«, rief er mir zu.
Wir gingen weiter. Es fiel mir jetzt leichter, weil der Schmerz in meinem Bauch nachgelassen hatte. Ich fragte ihn nach seinem Garten. Er erzählte mir, dass er sich mit Bienenzucht beschäftige, und lud mich ein, ein Wochenende in der Datsche am Stadtrand zu verbringen und es mir selbst anzusehen.
»Das würde ich sehr gern tun, vielen Dank.« Offenbar waren wir noch weit von der Wohnung seiner Mutter entfernt. Ich fragte ihn, warum seine Schwester Luna hieß.
»Der Mond ist eine Lichtquelle. Und Luna ist die Lichtquelle für meine Mutter. Ihre erste Tochter hat nicht überlebt.«
Diese Worte berührten einen Schmerz, der tief in mir war, zusammen mit all den anderen Schmerzen. Wie ein Teich mit schwarzem Wasser. Vom Mond beschienen.
Wenn ich nicht hinkte, weinte ich. Es war ein schrecklicher Anfang.
»Ist nicht mehr weit bis zur Kneipe«, sagte Walter, »aber zuerst muss ich den Blumenkohl wegbringen.« Er führte mich durch den Innenhof eines alten steinernen Gebäudes und wies mich an, im Treppenhaus zu warten.
Wieder saß ich auf den Stufen. Diesmal band ich mir die Schnürsenkel selbst.
Die Wände des Wohnblocks hatten Einschusslöcher vom letzten Krieg. Mein Vater hätte sich sofort darangemacht, die Wände der DDR zu verputzen. Mich beschäftigte Walters Beschreibung des verdorrten Kirschbaums, der im Garten seiner Datsche wuchs. Obwohl ich auf einer Steinstufe in Ostberlin saß, erhielt ich Bilder von anderswo. Sie waren alle in Schwarz-Weiß, wie Jennifers Fotos. Ein holzverschaltes Haus auf Cape Cod, Amerika. Das Haus war aus Kiefern- und Zedernholz errichtet. Drinnen befand sich ein großer Kamin. Vor den Fenstern hingen Holzläden. Irgendwo in diesem Haus war Jennifer, und ihr Haar war weiß geworden.
Ich hörte die Schreie der Möwen vor der Küste von Cape Cod und an den Ufern der Spree in Ostberlin.
Als Walter die Treppe herunterkam, hatte er einen winzigen holzgeschnitzten Spielzeugzug in der Hand.
»Den muss ich reparieren.« Er steckte den Zug in seine Manteltasche. »Der Leim ist bei meiner Mutter.«
Auf Deutsch versuchte er, mir etwas Kompliziertes zu erklären. Es ging offenbar darum, warum er nicht bei seiner Mutter und Schwester wohnte. Ich verstand nicht und fragte, ob wir siebzig Prozent Englisch sprechen könnten statt fünfzig, bis ich mich hineingefunden hätte.
Ich legte ihm meine Hand auf die Brust und lehnte mich an ihn, während ich nach dem Schock, den mir der Anblick des Holzzuges versetzt hatte, wieder zu Atem kam. Eines der Räder, rot lackiert, guckte aus Walters Manteltasche. Ich hatte diesen Zug schon einmal gesehen, oder von ihm geträumt, oder ihn sogar begraben, und hier war er, zurückgekehrt wie ein Gespenst, um mich zu quälen.
»Geht es Ihnen gut, Saul?«
»Aber ja doch«, antwortete ich.
Walter schlug vor, mit der Straßenbahn zur Kneipe zu fahren.
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