»Sie haben doch von dem großen Brandunglück im Dorfe B. gehört?« wandte sie sich zu einem Herrn an ihrer Seite. Und als man bejahte: »Ich denke, wir bilden ein Komitee, das irgend eine Wohltätigkeitsveranstaltung, verbunden mit Sammlung, ins Leben rufen soll?« Sie sah fragend umher. Lauter Beifall lohnte ihr. Über die Züge des Unbekannten huschte ein höhnisches Lächeln. Die Freiin fühlte dieses Lächeln, ohne daß sie es sah: Zorn wühlte in ihr.
»Sind alle einverstanden?« rief sie jetzt im Ton einer Herrscherin, die keinen Widerspruch erwartet. Ein Stimmenchaos: »Ja!« »Einverstanden!« »Natürlich!«
Mein Gegenüber, ein Kölner Bankherr, legte schon wie beteuernd seine Hand auf die Brusttasche, in welcher sich die Banknoten stauten.
»Dürfen wir auch auf Sie rechnen, mein Herr?« So die Baronin dem Fremden. Ihre Stimme zitterte. Jener erhob sich ein wenig und sagte laut, ohne den Blick zu wenden, mit brutalem Ton: »Nein!« Die Baronin zuckte zusammen. Dann zwang sie sich zu lächeln. Aller Augen waren auf den Fremden gerichtet. Der wandte sein Auge der Freifrau zu und fuhr fort:
» Sie tun ein Werk der Liebe; ich geh in die Welt, um die Liebe zu töten. Wo ich sie finde, da morde ich sie. Und ich finde sie oft genug in Hütten und Schlössern, in Kirchen und in der freien Natur. Aber ich folge ihr unerbittlich. Und wie der starke Lenzwind die Rose bricht, die sich zu früh hervorgewagt, so vernichte ich sie mit meinem großen, zürnenden Willen: denn zu früh ward uns das Gesetz der Liebe.« Seine Stimme verhallte dumpf, wie der Glockenton beim Ave. Die Baronin wollte entgegnen, aber der Mann fuhr fort: »Sie verstehen mich noch nicht. Hören Sie: Die Menschen waren unreif, als der Nazarener zu ihnen kam und ihnen die Liebe brachte. Er, in seinem lächerlich kindischen Edelmut, glaubte ihnen ein Gutes zu tun! Für ein Geschlecht von Giganten wäre die Liebe ein herrliches Ruhekissen, in dessen wollüstiger Weise sie neue Taten träumen dürften. Den Schwachen aber ist sie Ruin.« Ein katholischer Priester, der anwesend war, griff mit der linken Hand nach seiner Halsbinde, als wäre sie ihm plötzlich zu enge geworden.
»Ruin!« dröhnte es aus dem Munde des Fremden. »Ich spreche nicht von der Liebe der Geschlechter. Von der Nächstenliebe spreche ich, von Mitleid und Erbarmen, von Gnade und Nachsicht. Es giebt keine schlimmeren Gifte in unserer Seele!« Der Priester gurgelte etwas durch die dicken Lippen.
»Christus, was hast du getan! Mir ist, man hat uns aufgezogen, wie jene Raubtiere, denen man ihren innersten Trieb mit berechnender Klugheit genommen, damit man, wenn sie zahm geworden, ungestraft mit Knuten auf sie einhauen darf. So hat man uns die Zähne abgefeilt und die Klauen, und man hat uns gepredigt: Liebe! Man hat uns die Eisenrüstung unserer Kraft von den Schultern gezogen und hat uns gepredigt: Liebe! Man hat uns den Demantspeer unseres stolzen Willens aus den Händen gewunden und hat uns gepredigt: Liebe! Und so hat man uns nackend und bloß in den Sturm des Lebens gestellt, wo die Keulenschläge des Schicksals auf-und niedersausen, und man predigt uns: Liebe!«
Atemlos lauschte alles dem Sprecher. Die Diener wagten sich nicht vom Platze und standen verlegen, die Silberplatten in Händen, zuseiten des Tisches. Wie ein heißes Gewitter donnerten die Worte des Begeisterten in das schwüle Schweigen.
»… und wir haben gehorcht«, hub der seltsame Fremdling wieder an. »Wir haben blind und blöde diesem wahnwitzigen Befehle gehorcht. Wir haben die Dürstenden aufgesucht, die Hungernden, die Kranken, die Aussätzigen, die Schwachen, die Elenden, und wir sind selbst dabei dürstend, hungernd, krank, elend geworden! Wir haben unser Leben hingebracht, Gefallene aufzurichten, Zweifelnden zu raten, Betrübte zu trösten, und wir sind selbst dabei verzweifelt! Wir haben dem, der uns Weib und Kinder gemordet, der uns den eigenen Herd mit der Axt der Zwietracht gespalten, wir haben ihm nicht den schurkischen Schädel zerschmettert, wir haben ihm eine Hütte erbaut, in der er friedlich erschauen kann das Ende der Tage!«
Furchtbarer Hohn bebte in seiner Stimme. »Der, den sie als Messias preisen, hat die ganze Welt zum Siechenhaus gemacht. Die Schwachen, Elenden, Hinfälligen nennt er seine Kinder und Lieblinge. Und die Starken, die sind dazu da, diese kraftlose Brut zu beschützen, zu besorgen, zu bedienen!? Und wenn ich es in mir fühle heiß, innig und himmlisch, das stürmende Drängen nach Licht, und wenn ich mit festem Fuß den steilen, steinigen Pfad der Erreichung aufwärts steige, und wenn ich es leuchten sehe, das lodernde, göttliche Ziel, dann soll ich mich zu dem Krüppel bücken, der am Wege zusammengesunken dahockt, soll ihn loben, aufrichten, mitschleppen und soll meine fiebernde Kraft versickern lassen in dem ohnmächtigen Kadaver, der nach wenigen Schritten doch wieder hintaumelt? Wie sollen wir denn hinauf, wenn wir unsere Stärke den Elenden leihen, den Bedrängten, den faulen, sinn-und marklosen Schurken?!« Eine Unruhe erhob sich, ein Murren.
»Schweigen!« donnerte der Schwarze. »Zu feig sind Sie, einzugestehen, daß dem so ist. Sie wollen ewig im Sumpfe fortwaten; Sie glauben, Sie sehen den Himmel, weil Sie das schauen, was sich schmutzig in der Gosse spiegelt. Verstehen Sie mich doch! Man hat unsere Kraft an die Erde gebunden. Elend muß sie verglimmen auf dem Opferherde der Barmherzigkeit. Einzig dazu soll sie gut sein, den Weihrauch des Mitleids zu entzünden, den Dunst, der unsere eigenen Sinne betäuben soll? Sie, die Kraft, die bis zum Himmel züngeln kann in freier, großer, jauchzender Flamme?!«
Alles schwieg. Mit Lächeln fuhr der herrliche Mann fort. »Und wenn unsere Altvordern Affen waren, wilde Tiere mit großen Naturtrieben, und wenn ihnen ein Messias erstanden wäre, der ihnen Nächstenliebe gepredigt hätte, sie hätten, seinem Wort gehorchend, nie zu höherer Entwickelung emporklimmen dürfen. Nie kann die stumpfe, vielsinnige Menge Träger des Fortschritts sein; nur der ›Eine‹, der Große, den der Pöbel haßt im dumpfen Instinkte eigener Kleinheit, kann den rücksichtslosen Weg seines Willens mit göttlicher Kraft und sieghaftem Lächeln wandeln. Auch unser Geschlecht ist nicht die Spitze der unendlichen Pyramide des Werdens. Auch wir sind nicht vollendet. Auch wir sind unreif, nicht überreif, wie ihr im Dünkel so gerne wähnet. Darum vorwärts! Sollen wir nicht höher steigen dürfen in Erkenntnis, Willen und Macht? Soll es nicht den Starken gelingen, aus der Zwangatmosphäre des Massenneides emporzuschweben zum Lichte!?
Hört mich, ihr Alle: Ihr steht im Kampfe! Rechts und links fallen eure Nebenmänner; fallen, getroffen von Schwäche, Krankheit, Laster, Wahnsinn! … und wie alle die Geschosse heißen, die das schreckliche Schicksal speit. Laßt sie sinken!
Laßt sie hinsterben allein und elend. Seid hart, seid furchtbar, seid unerbittlich! Ihr müßt vorwärts, vorwärts!
Was schaut ihr so entsetzt? Seid auch ihr Schwächlinge, Alle? Fürchtet auch ihr zurückzubleiben?! Bleibt! Verendet wie Hunde! Der Starke nur hat Recht zu leben. Der Starke geht vorwärts … und die Reihen werden sich lichten; aber wenige Große, Gewaltige, Göttliche werden sonnigen Auges das neue, gelobte Land erreichen. Vielleicht nach Jahrtausenden erst. Und sie werden ein Reich bauen mit starken, sehnigen, herrischen Armen auf den Leichen der Kranken, der Schwachen, der Krüppel …
… Ein ewiges Reich!«
Sein Auge brannte. Er war aufgestanden. Die schwarze Gestalt erstreckte sich übergroß in die Höhe. Es war, als ob ein Lichtschein sie umrahmte.
Er sah wie ein Gott aus.
Sein Blick hing weit an der herrlichen Vision seiner Seele; dann kehrte er jäh aus den Fernen zurück, und er sprach:
»Ich gehe in die Welt, die Liebe zu töten. Kraft sei mit euch! Ich gehe in die Welt und predige den Starken: Haß! Haß! Aberhaß!«
Alle sahen sich sprachlos an. Die Baronin preßte, überwältigt