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nicht traurig.«

      So verharrten sie.

      Plötzlich sah der junge Mensch auf und sagte:

      »Komm fort mit mir!«

      Anna zwang ein Lächeln in ihre schönen Augen, welche voll Tränen waren. Sie schüttelte den Kopf und sah sehr hilflos aus. Und der Student hielt wieder wie früher ihre winzigen Hände, die in schlechten Handschuhen staken. Er sah in das lange Hauptschiff hinein. Die Sonne war erloschen, und die bunten Glasfenster waren häßliche, mattfarbene Kleckse. Es war still.

      Dann begann hoch in der Halle ein Piepsen. Beide schauten auf. Sie bemerkten eine verirrte kleine Schwalbe, welche mit müden, ratlosen Flügeln das Freie suchte.

      Auf dem Heimweg dachte der Gymnasiast an ein verabsäumtes lateinisches Pensum. Er beschloß, noch zu arbeiten, trotz des Widerwillens, den er hatte, und trotz aller Müdigkeit. Aber fast unwillkürlich machte er einen großen Umweg, verirrte sich sogar ein wenig in der sonst gut bekannten Stadt, und es war Nacht, als er in seine enge Stube trat. Auf den Lateinheften lag ein kleines Briefchen. Er las bei der unsicher flackernden Kerze:

      »Sie wissen alles. Ich schreibe Dir unter Tränen. Der Vater hat mich geschlagen. Es ist schrecklich. Jetzt lassen sie mich nie mehr allein ausgehen. Du hast recht. Komm fort. Nach Amerika oder wohin du willst. Ich bin morgen früh um sechs Uhr auf der Bahn. Da geht ein Zug. Vater fährt immer auf die Jagd damit. Wohin weiß ich nicht. Ich schließe. Es kommt jemand.

      Also erwarte mich. Bestimmt. Morgen um sechs. Bis in den Tod Deine

      Anna.

      Es war niemand. Wohin, glaubst Du, gehen wir? Hast Du Geld? Ich habe acht Gulden. Diesen Brief schick ich Dir durch unser Dienstmädchen an das euere. Mir ist jetzt gar nicht mehr bang.

      Ich glaube, Deine Tante Marie hat geklatscht.

      Sie hat uns also Sonntag doch gesehen.«

      Der Gymnasiast ging in großen und energischen Schritten auf und nieder. Er fühlte sich wie befreit. Sein Herz pochte heftig. Er empfand auf einmal: Mann sein. Sie vertraut sich mir an. Ich darf sie beschützen. Er war sehr glücklich und wußte: Sie wird mir ganz gehören. Das Blut stieg ihm in den Kopf. Er mußte sich setzen, und dann kam ihm in den Sinn: Wohin?

      Diese Frage wollte nicht schweigen. Fritz übertönte sie dadurch, daß er aufsprang und Vorbereitungen machte. Er legte ein wenig Wäsche und ein paar Kleider zurecht und preßte die ersparten Guldenscheine in das schwarze Ledertäschchen. Er war voll Eifer, schob ganz unnütz alle Laden auf, nahm Gegenstände und trug sie wieder an ihren alten Platz, warf die Hefte vom Tische in irgend eine Ecke und zeigte seinen vier Wänden mit prahlerischer Deutlichkeit: Hier ist Auswanderung, Schluß.

      Mitternacht war vorbei, als er am Bettrand niedersaß. Er dachte nicht ans Schlafen. Angekleidet legte er sich hin, nur weil ihn, wahrscheinlich vom vielen Bücken, der Rücken schmerzte. Er dachte noch einigemal: Wohin? und sagte laut: »Wenn man sich wirklich lieb hat…«

      Die Uhr tickte. Tief unten fuhr ein Wagen vorbei, und die Scheiben zitterten davon. Die Uhr, die noch von den Zwölfschlägen müde war, atmete auf und sagte mühsam »Eins«. Mehr konnte sie nicht.

      Und Fritz hörte es noch wie aus weiter Ferne und dachte: Wenn man sich … wirklich …

      Aber im allerersten Morgengrauen saß er fröstelnd in den Kissen und wußte bestimmt: Ich mag Anna nicht mehr. Sein Kopf war so schwer: Ich mag Anna nicht mehr. War das ihr Ernst? Um ein paar Schläge auf und davon laufen. Wohin denn? Er sann nach, als hätte sie’s ihm anvertraut: Wohin wollte sie denn? Irgendwohin, irgendwohin. Er empörte sich: Und ich? Ich sollte natürlich alles im Stiche lassen, meine Eltern und alles. Oh und die Zukunft, das Hernach. Wie dumm das war von Anna, wie häßlich. Ich möchte sie schlagen, wenn sie das imstande wäre.

      Wenn sie das imstande wäre.

      Als ihm die frühe Maisonne, so recht hell und heiter, in die Stube kam, hoffte er: Sie kann es nicht ernst gemeint haben. Er beruhigte sich ein wenig und hatte viel Lust, im Bett zu bleiben. Allein er sagte sich: Auf den Bahnhof will ich gehen, und sehen, daß sie nicht kommt. Und er malte sich die Freude aus, wenn Anna nicht kommt.

      Fröstelnd in der frühen Frische und mit großer Müdigkeit in den Knieen ging er auf den Bahnhof. Die Vorhalle war leer. Halb ängstlich, halb hoffnungsvoll hielt er Umschau. Keine gelbe Jacke. Fritz atmete auf. Er durchlief alle Gänge und Säle. Reisende gingen verschlafen und teilnahmslos auf und nieder, Gepäcksdiener lümmelten an hohen Säulen, und Leute aus der untersten Klasse saßen verdrossen, an Bündel und Körbe gelehnt, auf staubigen Fensterbänken. Keine gelbe Jacke. Der Portier rief irgendwo in einem Wartesaal Ortsnamen. Er läutete mit einer schrillen Glocke. Dann schnarrte er dieselben Ortsnamen ganz nah und dann noch einmal auf dem Bahnsteig. Und immer läutete davor die häßliche Glocke. Fritz wandte sich und schlenderte, die Hände in die Taschen bohrend, in die Vorhalle des Bahnhofes zurück. Er war sehr zufrieden und dachte mit Siegermiene: Keine gelbe Jacke. Ich wußte es ja.

      Wie im Übermut trat er hinter eine Säule. Er wollte den Fahrplan studieren, um zu erfahren, wohin denn dieser verhängnisvolle Sechsuhrzug eigentlich führe. Er las mechanisch die Stationen und machte ein Gesicht wie einer, der eine drollige Treppe besieht, auf der er fast gestürzt wäre. Da klappten schnelle Schritte auf den Fliesen. Als Fritz aufschaute, erhaschte sein Blick eben noch an der Perrontüre die kleine Gestalt in der gelben Jacke und dem Hute, auf welchem eine Rose schwankte. Fritz starrte ihr nach.

      Dann überkam ihn eine Furcht vor diesem schwachen, blassen Mädchen, welches mit dem Leben spielen wollte. Und als bangte er, sie könnte kommen, ihn finden und ihn zwingen, in die fremde Welt zu fahren, raffte er sich auf und lief, so schnell er konnte, ohne sich umzusehen, der Stadt zu.

       Inhaltsverzeichnis

      Der Assekuranzbeamte Theodor Fink fuhr von Wien an die Riviera. Unterwegs entdeckte er in seinem Handbuch, daß er mitten in der Nacht in Verona ankomme und dort zwei Stunden auf Anschluß warten müsse. Das war ein übriges, welches keineswegs beitrug, seine Stimmung zu verbessern. Er zündete sich eine Zigarette an, fand den Rauch unerträglich und schleuderte sie in weitem Bogen aus dem Fenster; seine Blicke folgten dem glimmenden Punkt in die blasse, nichtssagende Märzlandschaft, in deren tiefsten Talstellen Schneereste wie schmutzige Kissen lagen. Das langweilte ihn ebenso wie der gelbe Roman, der neben ihm auf dem Sitz lag, und mürrisch nahm er zum zehntenmale den Brief vor, welchen sein kranker Bruder ihm aus Nizza geschrieben hatte. Je öfter er die hastigen unsteten Zeilen las, desto deutlicher schien ihm, daß es der Ruf eines Sterbenden sei, dem er folgte. Und ihm wurde immer unbehaglicher. Er hatte für den um sieben Jahre jüngeren, spätgeborenen Bruder niemals viel übrig gehabt, denn das Kränkliche, Zerbrechliche an ihm war ihm abstoßend, und das Überfeine seiner Empfindung hatte für ihn etwas Unheimliches und Fremdes. Er fürchtete diese bevorstehenden Tage mit den vielen Aufregungen und Mühseligkeiten und empfand nebenbei aufrichtiges Mitleid, welches er allerdings dadurch zu lindern suchte, daß er immer wieder dachte: »Es wäre ja ein Glück für ihn. Wenn man krank ist.« Darüber schlief er ein.

      Durchgerüttelt, mit schmerzenden Gliedern und sehr verschlafen, stieg er als einziger in ›Verona vecchia‹ aus und folgte dem schweigsamen Portier in den Wartesaal zweiter Klasse. An den hohen Glastüren ließ ihn der Führer stehen. Theodor Fink stieß den Türflügel mit dem Ellbogen auf und wartete an der Schwelle, bis seine Augen sich in dem Dunkel des Raumes zurechtfanden. Allmählich erkannte er die Bogentüren, welche ihm gegenüber auf den Bahnsteig hinausführten, und etwas, was wie ein vielhöckeriges Ungetüm auf vier stämmigen Beinen in der Mitte des Saales stand; es war ein Tisch, mit vielen Gepäckstücken bedeckt. Endlich gewahrte Fink auch die Bänke, welche die Wände rings begleiteten, und er schob sich bis zu der nächsten nach vorwärts, um dort seinen unterbrochenen Schlaf fortzusetzen. Er tastete die Bank hin, und gerade, als er sich neigte, ging draußen jemand