Er drehte unwillkürlich seinen Schnurrbart und neigte sich zuvorkommend gegen die dunkle Ecke: »Gnädige reisen auch hinunter nach Nizza?«
»Nein, ich kehre zurück in meine Heimat.«
»Schon im März? Es ist noch sehr kalt in Deutschland. Da sind Sie wohl nicht krankheitshalber unten gewesen?«
»Oh, ich bin krank.« Das sagte sie traurig, aber versöhnt. Fink schwieg erstaunt und verlegen. Seine Augen suchten durch das Dunkel, aber er konnte nichts erkennen. Die Luft war dunstig und dick. Aus irgend einem Traum stieg ein Stöhnen, und draußen klang die Klingel wie ein Heimchen.
Um etwas zu erwidern, sagte Fink: »Ich bin nicht krank. Aber mein Bruder. Es geht ihm schlecht in Nizza; deshalb fahre ich hin.«
Aus dem Dunkel kams: »Oh bringen Sie ihn mit zurück. Auch wenn es ihm schlecht geht. Dort in dem frühen Frühling ist alles traurig. Das Leben und das Sterben…«
Theodor Fink machte eine Bewegung, und die Kranke sagte noch ganz tonlos: »Müde und kranke Menschen müssen zu Hause bleiben.« Der Beamte dachte: Sie muß doch noch jung sein, und dabei fühlte er sich dumm und ungeschickt und roh, als er entgegnete: »Das Klima müssen Sie bedenken, Fräulein…«
Sie schien das nicht gehört zu haben und fuhr fort: »Ich fahre auch nach Hause. Ich war traurig bei den Blumen und allein…«
»Sie sind gewiß noch sehr jung, Fräulein«, unterbrach sie Fink und ärgerte sich darüber.
»Ja«, sagte sie einfach, »ich bin jung.« Er ahnte, daß sie lächelte. »Aber deshalb bin ich doch gern allein. Auch zu Hause bin ich viel allein!«
Theodor Fink bereitete die Frage vor: »Wo ist Ihre Heimat?« Allein er konnte sie nicht aussprechen, denn sie erzählte weiter, und ihre Stimme wurde immer weicher und träumerischer dabei und klang wie aus der Ferne.
Sie träumte: »Ein weißes Zimmer hab ich. Denken Sie. Seine Wände sind so hell, daß immer ein wenig Sonne daran bleibt. Auch wenn draußen graue Tage sind. Und es sind viel graue Tage draußen. Aber in meinem Zimmer ists immer licht. Weißer Tüll verhängt die Fenster, und dahinter sind lauter weiße Blumen. Kleine Blumen, die bei mir nie ganz aufblühen. Sie duften auch nicht stark, aber es riecht doch alles nach ihnen: mein Taschentuch, meine Kissen, meine Lieblingsbücher. Jeden Morgen kommt die Schwester Agathe und lächelt. Sie lächelt immer, wenn sie zu mir kommt, und sitzt an meinem Bett in ihrer weißen Nonnenhaube. Ihre Hände fühlen sich an wie Rosenblätter. Sie weiß nichts von der Welt und ich auch nicht: so verstehen wir uns. Nur wenn einmal so selten warm die Sonne scheint, sitzen wir am Fenster und schauen hinaus. Alles ist dann weit von uns, was laut und groß ist: das Meer und der Wald und das Dorf und die Menschen. Am Sonntag, wenn sie läuten, ists wie eine Erinnerung. Gute Menschen aus den früheren Jahren pochen bei mir an. Sie kommen zu mir wie in eine Kirche Blumen in der Hand, auf den Zehen und im Feiertagskleid…«
Es war ganz still. Auch die Klingel draußen schwieg.
Theodor Fink starrte in das Dunkel. Er wartete auf die Stimme. Er fühlte: Sie wird so weitersprechen mit derselben süßen, silbernen Stimme und wird mir vieles sagen. Es ist wie eine Beichte, und ich kann sie nicht verstehen. Vielleicht hört sie einer von den vielen Fremden auf diesen Bänken und versteht sie. Ich kann sie nicht verstehen. Ich fürchte mich vor ihr. Dabei stand Theodor Fink leise auf, ohne daß die Bank knarrte, und tastete zu der Gangtüre. Er verschloß sie ganz vorsichtig hinter sich. Dann eilte er, wie gejagt, durch die matterhellten Gänge, an den verschlafenen Bahnwärtern vorbei, dem Ausgang zu. Endlich fand er das hohe Tor. Er wußte nicht, daß er die dunkle, fremde Lindenallee gegen die Stadt hinunterlief, er fühlte nur immer noch: »Ich kann sie nicht verstehen.« Erst als ein erster, früher Postwagen an ihm vorbei gegen den Bahnhof rollte, blieb er stehen und nahm den Hut vom Kopfe. Der Morgenwind regte sich leise über ihm in den alten Lindenästen und wehte lauter kleine, kühle Blüten an seine Stirne.
Die Stimme (1896/97)
Doktor Henke war in der Stadt ein Muster von Pflichteifer; aber die sechs Urlaubswochen verträumte er, auf dem Rücken liegend, an dem weißen Strand des Ostseebades Misdroy in heroischer Faulheit. Er hatte die Hände als Kissen unter den kurzgeschorenen Kopf geschoben und schaute in die hohen Buchenwipfel. Dabei war er sehr ärgerlich über seinen Freund Erwin, der vor ihm stand und den heranrollenden Wellen kleine Steinchen in den Rachen warf; denn er mußte ihm folgende ernste Rede halten:
»Du bist ja ein Esel. Erholen sollst du dich hier. Nicht solche Tollheiten ausspinnen. Ich kann gar nicht klug daraus werden. ›Eine Stimme.‹ Hat man so was schon gehört? Du bist so einer, den man unter die Haube bringen muß um jeden Preis. Werde übrigens für dich auf Brautschau gehen. Was ich in diesen paar Tagen alles zu hören bekommen habe. Zwei Diebe verteidigen und einen Raubmörder, und die Hinterlassenschaft einer Erbtante, die ohne letzten Willen gestorben ist, regeln, strengt lange nicht so an, wie dir alle deine Dummheiten ausreden. Überarbeitet bist du.«
Erwin lächelte in die Wellen hinaus: »Da magst du ja recht haben. Ich bin sehr müde. Und gerade deshalb sehne ich mich darnach. In einem weichen tiefen Stuhl lehnen und von einer süßen Stimme sich erzählen lassen, wie das Leben ist. Durch diese liebe Stimme sich mit dem Leben versöhnen, und alles wieder liebgewinnen an ihm: seine kleinen Ereignisse und seine großen Wunder.«
Doktor Henke hob ungeduldig den Kopf und suchte die Augen des Freundes. Er hatte keinen Sinn für Poesie, aber von ungefähr fiel ihm ein, daß diese Augen mit