Wir saßen selbander auf der Moosbank. Es war einer jener herrlichen Frühsommertage, wo die Welt eine große volltönende Hymne scheint, die die Schönheit preist des wahren wonnigen Lebens. Der Wald schien ein Tempel, auf dessen stämmigen Säulen die unendliche Decke in blauender Klarheit ruhte; der Wind bewegte mit zartem Hauche die Zweige und aus dem Tannicht stieg des berückenden Duftes schmeichelnder Weihrauch. Stille. Mir war, als ginge an uns vorbei auf dem moosumrandeten Pfade eine gute, milde, segenstreuende Gottheit, der die Menschen zu opfern vergessen, einsam dahin. Ich glaube es war ein Gebet, das mir in der Seele erwachte, tief, tief, ein Gebet zu diesem unbekannten, übermenschlichen Wesen des Waldes, das bis auf die Lippen sich rang. Ich flehte, es möchte das holde Weib neben mir aus der schrecklichen grauen Umnachtung aufwachen und rings um sich freudig den Odem des lieben, lebendigen Lebens ahnen und fühlen… Hatte ich laut gesprochen? Das Mädchen legte die Hand sanft auf die meine und blickte mich an so traurig, daß mein Herz aus dem Taumel der Freude jäh auffuhr… Es würgte mir die Kehle. Ich wollte etwas sagen, ermuntern, trösten. Das Wort erstarb. Wir schwiegen. Vor uns lag der weite sonnendurchflutete Wald. Lustige Lichter hüpften in übermütiger Hast hin über den Moosgrund und erloschen ferne im Dunkel verdämmernder Stämme. Ich starrte vor mich auf den Weg. Da hüpfte gegenüber aus dem Dickicht ein kleiner, kecker Vogel geradenwegs auf uns zu. Er sprang hin über den Kiespfad, badete das graue Gefieder in der glühend durchsonnten Sandflut und kam auf uns zu, dicht bis an unsere Füße. Ich bemerkte, daß Felice aufmerksam das niedliche Tierchen verfolgte, wie ihre Züge heller und heller wurden. Ja, wahrhaftig sie lachte… So hatte ich sie noch nie gesehen. Ich erinnerte mich, daß ich ein paar Brosamen in der Tasche trug, die streute ich nun dem zutraulichen Gaste hin, und er pickte sie auf und drehte sein Köpfchen nach rechts und nach links und neigte sich wieder zur Erde. Das Mädchen neben mir legte behutsam die Hand auf meine Schulter und wandte den Kopf mir zu. Ich sah ihr in die Augen. Aber wie war mir, die Schleier, die trüben, verhüllten nicht mehr die grauen, tiefen Lichtsterne; sie strahlten in so unsagbarem Glück auf, daß es mich wie ein holder, jauchzender Wahnsinn packte: »Felice«, schrie ich, »du lebst«, und drückte das bebende Weib in seliger Sehnsucht an mich. Sie schwieg. Sie hielt mich fest umschlungen, dann riß sie sich los, begrüßte mit klaren Blicken des innigsten Dankes Himmel, Licht, Sonne und Dasein, eilte in meine Arme zurück und weinte, das Köpfchen an meine Schulter gepreßt, erlösende Tränen der Freude. Glücklich wie Kinder schritten wir beide heimwärts und es war des Jubels kein Ende, gar erst, als die bangen Eltern das entzückende Wunder vernahmen.
Felice war genesen.
Erlaß mir von der Zeit zu sprechen, die jetzt folgte; laß mich kurz enden. Es war eine Zeit namenlosen Glückes. Ich müßte die Sprache der Himmel reden, um dir diese Wonnen zu schildern. Das holde Wesen zu sehen, das in kindischer Freude das flutende Leben begrüßte, die kleinen Freuden der Natur, an denen wir verwöhnt und gefühllos vorübergehen, mit bebendem Busen und flammendem Blicke genoß, und das jetzt im unschuldsreinen Herzen mit mädchenhafter Scheu das heilige Geheimnis niegeahnter Liebe aufkeimen fühlte…
Das schreckliche Gespenst, dem ich zum Opfer falle, und dessen Nahen ich von Kindheit auf fürchtete, trat damals zuerst an mich heran. Ich fühlte Beschwerden, spuckte Blut. Die Ärzte schüttelten den Kopf: Nach Süden, nach Süden. Lange verschwieg ichs Felice, die meine Braut geworden war. Endlich überfiel mich einmal in ihrer Gegenwart der Husten. Sie scherzte erst. Ich winkte ihr zu gehen. Da ward sie ängstlich. Sie blieb. Als ich mich von meinem Anfall erholt hatte, gestand ich: Daß ich sie nie heimführen dürfe, daß… was weiß ich was Alles… Sie lag schluchzend in meinen Armen. Ich weinte auch. Spät trennten wir uns. Entsetzlicher Abend! Als ich sie zur Tür geleitete, war es schon dunkel. Und da, wie sie so vor mir stand, da legte sich wieder der trübe Nebelhauch schrecklicher Starrheit über die fluttiefen großen Augen, ihre Gestalt wuchs, die Hand in der meinen ward eiskalt, und ein Moderhauch schien von ihr auszugehen…
Damals sahen wir uns zum letzten Mal. Den nächsten Tag reiste ich ab. Der Rat war beim Wagen. Felice schickte ein Briefchen. Ich nahm es zu mir, bat ihr meinen letzten Gruß zu bringen und riß mich endlich aus den Armen des alten Mannes. Im Coupé erst wollte ich Felice’s Zeilen lesen. Ich war noch zu erregt. Ich hatte im Zuge Platz genommen. Als das Hin-und Herlaufen der Reisenden vorüber und ich in meinem Abteil allein geblieben war, nahm ich das teuere Kleinod vor. Ich las nur die Worte… »Leb wohl, ich muß zum zweiten Male sterben!« … Ein schreckliches Ahnen ergriff mich.
Ich mußte zurück. Ewigkeiten schienen mir die Minuten bis zur nächsten Haltestelle. Endlich! »Wann geht der Zug zurück?« »In zwei Stunden!« Da tritt der Stationschef auf mich zu: »Sind Sie Herr M …?«… Ich nickte, zu sprechen vermag ich nicht. Ich sehe, wie er ein Telegramm hervorzieht. Mechanisch öffne ich: »Felice beim Teich abgerutscht, alles vorüber. Gott stärke uns…«
Der Apostel (1896)
Gasttafel im ersten Hotel von N. An die Marmorwände des hohen, hell erleuchteten Saales brandet Raunen der Menschen und Rasseln der Messer. Geschäftig, gleich lautlosen Schatten, huschen die schwarzbefrackten Diener mit den silbernen Platten hierhin und dorthin. Aus den blanken, hochbeinigen Eiskübeln blinzeln die Sektflaschen nach den flachen Weinschalen hin. Alles glänzt und flimmert in den Strahlen der elektrischen Lampen. Die Augen und die Schmucksteine der Damen, die Glatzen der Herren und endlich die Worte, die hin und wider hüpfen wie Feuerfunken. Wenn sie zünden, schlägt einmal nah, einmal fern die grelle Lohe eines kurzen Lachens aus einer Frauenkehle. Dann schlürfen die Damen eifrig die duftende Brühe aus den feinen, durchschimmernden Tassen, während die jüngeren Herren den Kneifer über die Nase spreizen und mit kritischem Blick die bunte Tafelrunde mustern.
Sie saßen alle schon seit Tagen so beisammen. Nur am Ende des Tisches hatte ein neuer, fremder Gast Platz genommen. Die Herren ließen ihr Auge flüchtig über diese Erscheinung weggleiten, denn der bleiche, ernste Mann, der dort unten saß, trug nicht modische Kleidung. Ein hoher, schneeweißer Kragen schmiegte sich bis an sein Kinn hinauf, und die breite, schwarze Binde, die man im ersten Dritteil unseres Jahrhunderts trug, umschloß den Hals. Der schwarze Rock ließ kein Stückchen der Hemdbrust sehen und lag feierlich auf den breiten Schultern. Was aber die Herren noch unangenehmer berührte, war das große, graue Auge des Ankömmlings, das hoheitsvoll und mächtig durch die ganze Gesellschaft, durch die Wandung des Raumes zu dringen schien, und das leuchtete, als ob ein fernes, schimmerndes Ziel sich beständig drin spiegelte. Dieses Auge veranlaßte die neugierigen, heimlichen Blicke der Frauen. Man munkelte sich über den Tisch hinüber Vermutungen zu, man stieß sich ganz leise mit den Füßen an, man fragte, forschte,