Nie wieder erfuhr ich je in solcher Gleichzeitigkeit Mitleid und Furcht. Ich stand oben im Saal, in dem nichts dunkel war als die alten Familienbilder, und ich sagte mir, daß ich Grund hatte, froh zu sein. Die Fenster waren weit offen, es kam eine Menge Morgen herein und, ganz allein auf dem Tischtuch der breiten Familientafel, spielte das Silber des Samowars mit der unsichtbaren schwebenden Heiterkeit. Und doch war es zu spät. Dies war alles, was ich hätte sagen können, wenn man mich gedrängt hätte. Ich vertiefte mich in die Porträts, als wäre etwas da, was man vergessen müßte, und schließlich blieb ich vor einem, das mich wirklich beschäftigte. Es stellte eine Nonne dar, die Äbtissin eines Klosters in ihrer verschlossenen Ordenstracht, und mochte gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts gemalt worden sein, offenbar von russischer Hand. Alles in diesem Bildnis, das Gesicht nicht ausgenommen, war allgemein und gleichgültig; die Gewohnheit des Kanons hatte sichtlich das Übergewicht behalten über den Einfluß des Gegenstandes. Aber plötzlich, bei den Händen, war ein Wunder geschehen: Es waren deutliche, sehr eigene Hände, unsymmetrisch aneinandergelegt zu der oft gebrauchten Haltung des gewohnten Gebets. Gott weiß, wie es geschehen sein mochte: Der schlichte leibeigene Maler hatte es aufgegeben, seine sonstigen erlernten Hände zu malen; es war über ihn gekommen, die Hände nachzubilden, die er in Wirklichkeit vor sich sah, – und man mußte zugeben, daß es ihm wunderlich gelungen war, sie in ihrer Realität zu erreichen. Er hatte sie wichtig genommen, als gäbe es nichts als diese alternden gefalteten Hände, als hinge eine Menge davon ab, sie nicht zu vergessen. Über dem Bestreben, alle Einzelheiten, die er nach und nach entdeckte, in ihrem Umriß unterzubringen, waren sie ihm viel zu groß geworden, und nun standen sie vorn in dem Bilde, hoch wie ein Kirchturm, ein für allemal. Es ging mir durch den Kopf, daß mit diesen Händen wirklich etwas von dem Schicksal der dargestellten Frau überliefert war, aber zugleich empfand ich, daß ich mich viel zu lange mit ihnen einließ. Denn welches Interesse konnte ich an dieser Nonne haben, von der man wahrscheinlich nicht einmal den Namen wußte? Ich weiß, ich hielt es damals für einen Vorwand meiner Verlegenheit, ich meinte sogar, nicht ganz wahr zu sein, indem ich mich immer noch mit dieser Malerei beschäftigte. Und doch war es ganz anders. Jetzt, nach so langer Zeit, begreife ich, daß dieses Bild mich anging. Wie sooft alte Bildnisse, hing es da im Saal und enthielt, unter dem Schein einer Unbekannten, das vorhandene Verhängnis des Hauses. Die Äbtissin war gleichgültig, und vielleicht war ihr Leben für andere ohne Bedeutung. Daß es ihre Hände waren, das ging mir sicher nicht nah, aber daß in diesen grotesk großen Händen das entscheidende, das hinreißende Erlebnis des Malers war, der der Welt gewahr wurde, der sich zum erstenmal mit allem Glück und aller Mühsal seines Wesens nachfühlend an ihr versuchte:, das schaute ich in mich hinein, und jetzt ergreift es mich von innen. Denn genau das gleiche Erlebnis war in diesem Haus unterdrückt worden, wieder und wieder. Hier hatte einer, dem das Herz für die Herrlichkeit zweier Hände aufgegangen war, seine vielen Jahre damit hingebracht, sich zu weigern. Eigenmächtig hatte er über sein Leben verfügt und sich gewehrt und anders gewollt. Mit immer neuen Beschäftigungen hatte er seine innerste Aufgabe zu ersticken versucht, und die Beängstigung, mit der ihr Drängen ihn erfüllte, war schließlich so groß geworden, daß er die ganze Welt beunruhigte um seiner Ruhe willen. War er nun ruhig? Man stand vor ihm, man zwang sich aufzusehen, man wußte es nicht. Unwillkürlich sah man um sich, aber es war nirgends ein Beweis dafür, daß in diesem gewissensgeizigen Greis der Kampf zu Ende war. Wie, wenn die ungeheuer angewachsene Forderung seines Werkes sich noch einmal in ihm erhübe? Wie, wenn er Recht gehabt hätte mit seiner vielen Todesfurcht, weil er nun doch enden würde als einer, der am Beginn unterbrochen war? Es war kein Zimmer in diesem Haus, in dem er sich nicht gefürchtet hatte zu sterben. Hier irgendwo war er auf und ab gegangen und hatte an jenen Knaben gedacht, der mit dreizehn Jahren gestorben war, wozu, mit welchem Recht? Oder die grausamen Tage in Hyères waren ihm eingefallen, da sein Bruder Nikolai sich auf einmal veränderte, nachgab und sich pflegen ließ. Er veränderte sich auch. Und mit einem Entsetzen ohnegleichen ahnte er, daß sein Inneres kaum angefangen war; daß er, wenn er jetzt stürbe, nicht lebensfähig sein würde im Jenseits; daß man sich dort schämen würde für seine rudimentäre Seele und sie in der Ewigkeit verstecken würde wie eine Frühgeburt. Er sah nicht, daß diese Angst die Angst seines Stolzes war. Er merkte nicht, wieviel Ungeduld und Eitelkeit darin lag, daß er die Liebe aus seiner Arbeit riß, um sie schier aufzuzeigen und allen damit Gewalt anzutun. Er wußte nicht, daß seine neue Stimme für den Ruhm, den er verjagen wollte, nur ein noch lauterer Lockruf war. Und niemand sagte es ihm. Wir bringen es kaum über uns, dem Gang solcher Versuchungen nachzugehen, ohne die Spur eines Engels zu suchen, der vielleicht hätte gebraucht werden können. Und doch erschrickt man, wenn man wirklich in der Nähe dieses Lebens die große Liebende entdeckt, die umsonst gewesen war. Zwar damals lebte sie nicht mehr. Aber hatte er sich nicht an Tatjana Alexandrowna von Kindheit auf, mit allen Instinkten seines Herzens geheftet? Und war es nicht später in ihrer Stube, wo ihn immer wieder die Macht der Arbeit überkam, mit so elementischer Freudigkeit, daß an Widerspruch nicht zu denken war? Ist es ein Aberglaube, zu meinen, sie hätte, mit der klaren Aussicht der Liebenden, alles irgendwie vorausgesehen? Muß sie nicht um die Todesfurcht gewußt haben, die über dieses Haus hereinbrechen würde, damals als sie, einige Jahre vor ihrem Tod, in ihrem Zimmer sich plötzlich abwandte und bat, man möchte ihr ein anderes geben, ein schlechteres, damit auf dieses gute hier nicht die Nebenbedeutung ihres Sterbens fiele und es für später verdürbe? Und mit welcher Vorsicht und Reinlichkeit starb sie dann nicht. Ihre wertlosen Dinge waren zusammengestellt; es sah aus, als ließe sie sie nur zurück, weil sie nicht denken mochte, daß ihr etwas gehöre. Vielleicht geschah es aus demselben Grund, daß sie nichts vernichtet hatte; es paßte zu ihr, daß sie nichts für das endgültige Eigentum ihres Herzens hielt und meinte, es müsse alles gewissenhaft zurückgegeben werden an Gottes strenges Ärar. Oder war es doch die letzte Aufgabe ihrer schweren Liebe, daß in der kleinen perlengestickten Tasche der Zettel mit ihrem alten Geheimnis geblieben war? Sollte er ihm in die Hände fallen? Sollte er lesen, was er nicht verstanden hatte, solang sie war, daß sie, in allem Verzicht, ihr inneres Werk nicht unterdrückt hatte, sondern nur seine zeitliche Eitelkeit. Er las es. Er warf ihr vor, daß sie nur um seines Vaters willen hatte lieben können. Er verurteilte sie fast. Er begriff es nicht mehr.
Die Erzählungen