Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge. Rainer Maria Rilke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Maria Rilke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027211104
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und Entschlossenheit.«

      Es entstand eine Pause. Der junge Mann, zu dem Brigge gekommen war, wußte, daß dieser möglicherweise nichts weiter sagen würde; und sosehr ihn nach einer Aufklärung und Ergänzung jener schon gesprochenen Worte verlangte, so unterdrückte er doch jede Frage, ja sogar jedes Geräusch. Man könnte sagen, er bemühte sich auch noch den Wunsch nach weiterem, der in ihm heranwuchs, zu vernichten, um seinen Gast in keiner Weise zu beeinflussen und zu stören. Da neigte Malte Laurids Brigge sich nach vorn, sein Gesicht kam in den Feuerschein, wurde hell und dunkel, hell und dunkel, und nun sah der andere dieses Gesicht, wie er es nie zuvor gesehen hatte. Es wurde ihm gezeigt, welche Möglichkeiten in diesem Gesichte lagen: die Masken von sehr viel großen und merkwürdigen Schicksalen; traten aus seinen Formen hervor und sanken wieder zurück in die Tiefe eines unbekannten Lebens. Es waren Züge von Pracht und Aufwand in diesen Masken, aber es kamen, im unabgeschlossenen und schnellen Wechsel ihres Ausdrucks, auch harte, verschlossene, absagende Linien vor; und das alles war so, stark, so zusammengefaßt und bedeutungsvoll, daß der Beschauer fast bestürzt in die Bühne dieses Gesichtes hineinsah, von der er, wie er jetzt begriff, bis zu diesem Tage nur den Vorhang mit seinem immer gleichen Faltenfall gekannt hatte.

      In diesem Augenblick sank das Kaminfeuer zusammen, Brigges Mund wurde dunkel, und er sagte: »Zwölf Jahre oder höchstens dreizehn muß ich damals gewesen sein. Mein Vater hatte mich nach Urnekloster mitgenommen. Ich weiß nicht, was ihn veranlaßte, seinen Schwiegervater aufzusuchen; die beiden Männer hatten sich jahrelang, seit dem Tode meiner Mutter nicht gesehen, und mein Vater selbst war noch nie in dem alten Schlosse gewesen, in welches der Graf Brahe sich erst spät zurückgezogen hatte. Ich habe das merkwürdige Haus später nie wiedergesehen, das, als mein Großvater starb, in fremde Hände kam. So wie es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung bewahrt ist, ist es kein Gebäude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang, das diese beiden Räume nicht verbindet, sondern nur wie ein Fragment aufbewahrt ist. In dieser Weise ist alles in mir verstreut, – die Zimmer, die Treppen, die mit so großer Umständlichkeit sich niederließen, und andere kleine rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel man ging wie das Blut in den Adern; die Turmzimmer, die hoch aufgehängten Balkone, die unerwarteten Altane, auf die man von einer kleinen Tür hinausgedrängt wurde, – alles das, ist noch in mir und wird nie auf hören, in mir zu sein. Es ist, als wäre das Bild dieses Hauses aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem Grunde zerschlagen; in jedem meiner Organe ist ein Stück davon, und das größte ist in meinem Herzen. Da ist, so scheint es mir, vollkommen erhalten, jener Saal, in dem wir uns zum Mittagessen zu versammeln pflegten, jeden Abend um sieben Uhr. Ich habe diesen Raum niemals bei Tage gesehen, ich erinnere nicht einmal, ob er Fenster hatte und wohin sie aussahen; jedesmal, sooft die Familie eintrat, brannten die Kerzen in den schweren Armleuchtern, und man vergaß in einigen Minuten die Tageszeit und alles, was man draußen gesehen hatte. Dieser hohe, wie ich vermute, gewölbte Raum war stärker als alles; er saugte mit seiner dunkelnden Höhe, mit seinen niemals ganz aufgeklärten Ecken alle Bilder aus einem heraus, ohne einem einen bestimmten Ersatz dafür zu geben. Man saß da wie aufgelöst, völlig ohne Willen, ohne Besinnung, ohne Lust und ohne Abwehr. Man war wie eine leere Stelle. Ich erinnere mich, daß dieser vernichtende Zustand mir zuerst fast Übelkeit verursachte, eine Art Seekrankheit, die ich nur dadurch überwand, daß ich mein Bein ausstreckte, bis ich mit dem Fuß das Knie meines Vaters berührte, der mir gegenübersaß. Erst später fiel es mir auf, daß er dieses merkwürdige Benehmen zu begreifen oder doch zu dulden schien, obwohl zwischen uns ein fast kühles Verhältnis bestand, aus dem ein solches Gebaren nicht erklärbar war. Es war indessen jene leise Berührung, welche mir die Kraft gab, die langen Mahlzeiten auszuhalten. Und nach einigen Wochen krampfhaften Ertragens hatte ich, mit der fast unbegrenzten Anpassung des Kindes, mich so sehr an das Unheimliche jener Zusammenkünfte gewöhnt, daß es mich keine Anstrengung mehr kostete, zwei Stunden bei Tische zu sitzen; jetzt vergingen sie sogar verhältnismäßig schnell, weil ich mich damit beschäftigte, die Anwesenden zu beobachten. Mein Großvater nannte es die Familie, und ich hörte auch die anderen diese Bezeichnung gebrauchen, die ganz willkürlich war; denn obwohl diese vier Menschen miteinander in entfernten verwandtschaftlichen Beziehungen standen, so gehörten sie doch in keiner Weise zusammen. Der Oheim, welcher neben mir saß, war ein alter Mann, dessen hartes und verbranntes Gesicht einige schwarze Flecken zeigte, wie ich erfuhr, die Folgen einer explodierenden Pulverladung; mürrisch und malkontent, wie er war, hatte er als Major seinen Abschied genommen, und nun machte er in einem mir unbekannten Raume des Schlosses alchymistische Versuche, war auch, wie ich die Diener sagen hörte, mit einem Gefangenhause in Verbindung, von wo man ihm ein-oder zweimal jährlich Leichen zusandte, mit denen er sich Tage und Nachte einschloß und die er zerschnitt und auf eine geheimnisvolle Art zubereitete, so daß sie der Verwesung widerstanden. Ihm gegenüber war der Platz des Fräuleins Mathilde Brahe. Es war das eine Person von unbestimmtem Alter, eine entfernte Cousine meiner Mutter, von der nichts bekannt war, als daß sie eine sehr rege Korrespondenz mit einem österreichischen Spiritisten unterhielt, der sich Baron Nolde nannte und dem sie vollkommen ergeben war, so daß sie nicht das geringste unternahm, ohne vorher seine Zustimmung oder vielmehr etwas wie seinen Segen einzuholen. Sie war zu jener Zeit außerordentlich stark, von einer weichen, trägen Fülle, die gleichsam achtlos in ihre losen, hellen Kleider hineingegossen war; ihre Bewegungen wären müde und haltlos, und ihre Augen flossen beständig über. Und trotzdem war etwas in ihr, das mich an meine zarte und schlanke Mutter erinnerte. Ich fand, je länger ich sie betrachtete, alle die feinen und leisen Züge in ihrem Gesichte, an die ich mich seit meiner Mutter Tode nie mehr recht hatte erinnern können; nun erst, seit ich Mathilde Brahe täglich sah, wußte ich wieder, wie die Verstorbene ausgesehen hatte; ja ich wußte es vielleicht zum erstenmal. Nun erst setzte sich aus hundert und hundert Einzelheiten ein Bild der Toten in mir zusammen, jenes Bild, das mich überall begleitet. Später ist es mir klargeworden, daß in dem Gesichte des Fräuleins Brahe wirklich alle Einzelheiten vorhanden waren, die die Züge meiner Mutter bestimmten, – sie waren nur, als ob ein fremdes Gesicht sich dazwischengeschoben hätte, auseinandergedrängt, verbogen und nicht mehr in Verbindung miteinander. Neben dieser Dame saß der kleine Sohn einer Cousine, ein Knabe, etwa gleichaltrig mit mir, aber kleiner und schwächlicher. Aus einer gefältelten Krause stieg sein dünner, blasser Hals und verschwand unter einem langen Kinn. Seine Lippen waren schmal und fest geschlossen, seine Nasenflügel zitterten leise, und von seinen schönen dunkelbraunen Augen war nur das eine beweglich. Es blickte manchmal ruhig und traurig zu mir herüber, während das andere, wie in starrer Angst, immer in dieselbe Ecke gerichtet blieb, als dürfte es sich nicht von dort abwenden. Am oberen Ende der Tafel stand der ungeheuere Lehnsessel meines Großvaters, den ein Diener, der nichts anderes zu tun hatte, ihm unterschob und in dem der Greis nur einen geringen Raum einnahm. Es gab Leute, die diesen schwerhörigen und herrischen alten Herrn Exzellenz und Hofmarschall nannten, andere gaben ihm den Titel General. Und er besaß gewiß auch alle diese Würden; aber es war so lange her, seit er Ämter bekleidet hatte, daß diese Benennungen kaum mehr verständlich waren. Mir schien es überhaupt, als ob an seiner in gewissen Momenten so scharfen und doch immer wieder aufgelösten Persönlichkeit kein bestimmter Name haften könne. Ich konnte mich nie entschließen, ihn Großvater zu nennen, obwohl er bisweilen freundlich zu mir war, ja mich sogar zu sich rief, wobei er meinem Namen eine scherzhafte Betonung zu geben versuchte. Übrigens zeigte die ganze Familie ein aus Ehrfurcht und Scheu gemischtes Benehmen dem Grafen gegenüber, nur der kleine Erik lebte in einer gewissen Vertraulichkeit mit dem greisen Hausherrn; sein bewegliches Auge hatte zuzeiten rasche Blicke des Einverständnisses mit ihm, die ebenso rasch von dem Großvater erwidert wurden; auch konnte man sie zuweilen an den langen Nachmittagen am Ende der tiefen Galerie auftauchen sehen und beobachten, wie sie, Hand in Hand, die dunklen alten Bildnisse entlanggingen, ohne zu sprechen, offenbar auf eine andere Weise sich verständigend. Ich befand mich fast während des ganzen Tages im Parke und draußen in den Buchenwäldern oder auch auf der Heide; und es gab zum Glück Hunde auf Urnekloster, die mich begleiteten, es gab da und dort ein Pächterhaus oder einen Meierhof, wo ich Milch und Brot und Früchte bekommen konnte, und ich glaube, daß ich meine Freiheit ziemlich sorglos genoß, ohne mich, wenigstens in den folgenden Wochen, von dem Gedanken an die abendlichen Zusammenkünfte ängstigen zu lassen. Ich sprach fast mit niemandem, denn es war meine Freude, einsam zu sein; nur mit den Hunden hatte ich kurze Gespräche dann und wann: mit ihnen verstand ich mich ausgezeichnet. Schweigsamkeit