In diesen Jahren gingen in ihm die großen Veränderungen vor. Er vergaß Gott beinah über der harten Arbeit, sich ihm zu nähern, und alles, was er mit der Zeit vielleicht bei ihm zu erreichen hoffte, war sa patience de supporter une âme. Die Zufälle des Schicksals, auf die die Menschen halten, waren schon längst von ihm abgefallen, aber nun verlor, selbst was an Lust und Schmerz notwendig war, den gewürzhaften Beigeschmack und wurde rein und nahrhaft für ihn; Aus den Wurzeln seines Seins entwickelte sich die feste, überwinternde Pflanze einer fruchtbaren Freudigkeit. Er ging ganz darin auf, zu bewältigen, was sein Binnenleben ausmachte, er wollte nichts überspringen, denn er zweifelte nicht, daß in alledem seine Liebe war und zunahm. Ja, seine innere Fassung ging so weit, daß er beschloß, das Wichtigste von dem, was er früher nicht hatte leisten können, was einfach nur durchwartet worden war, nachzuholen. Er dachte vor allem an die Kindheit, sie kam ihm, je ruhiger er sich besann, desto ungetaner vor; alle ihre Erinnerungen hatten das Vage von Ahnungen an sich, und daß sie als vergangen galten, machte sie nahezu zukünftig. Dies alles noch einmal und nun wirklich auf sich zu nehmen, war der Grund, weshalb der Entfremdete heimkehrte. Wir wissen nicht, ob er blieb; wir wissen nur, daß er wiederkam.
Die die Geschichte erzählt haben, versuchen es an dieser Stelle, uns an das Haus zu erinnern, wie es war; denn dort ist nur wenig Zeit vergangen, ein wenig gezählter Zeit, alle im Haus können sagen, wieviel. Die Hunde sind alt geworden, aber sie leben noch. Es wird berichtet, daß einer aufheulte. Eine Unterbrechung geht durch das ganze Tagwerk. Gesichter erscheinen an den Fenstern, gealterte und erwachsene Gesichter von rührender Ähnlichkeit. Und in einem ganz alten schlägt plötzlich blaß das Erkennen durch. Das Erkennen? Wirklich nur das Erkennen? – Das Verzeihen: Das Verzeihen wovon? – Die Liebe. Mein Gott: die Liebe.
Er, der Erkannte, er hatte daran nicht mehr gedacht, beschäftigt, wie er war: daß sie noch sein könne. Es ist begreiflich, daß von allem, was nun geschah, nur noch dies überliefert ward: seine Gebärde, die unerhörte Gebärde, die man nie vorher gesehen hatte; die Gebärde des Flehens, mit der er sich an ihre Füße warf, sie beschwörend, daß sie nicht liebten. Erschrocken und schwankend hoben sie ihn zu sich herauf. Sie legten sein Ungestüm nach ihrer Weise aus, indem sie verziehen. Es muß für ihn unbeschreiblich befreiend gewesen sein, daß ihn alle mißverstanden, trotz der verzweifelten Eindeutigkeit seiner Haltung. Wahrscheinlich konnte er bleiben. Denn er erkannte von Tag zu Tag mehr, daß die Liebe ihn nicht betraf, auf die sie so eitel waren und zu der sie einander heimlich ermunterten. Fast mußte er lächeln, wenn sie sich anstrengten, und es wurde klar, wie wenig sie ihn meinen konnten.
Was wußten sie, wer er war. Er war jetzt furchtbar schwer zu lieben, und er fühlte, daß nur einer dazu imstande sei. Der aber wollte noch nicht.
Ende der Aufzeichnungen
Aus dem Nachlaß zu den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
(Erste Fassung des Eingangs)
1
Zuerst glaubte ich, sein Gesicht würde das unvergeßlichste sein; aber ich fühle, daß ich es nicht beschreiben kann. Auch seine Hände waren seltsam, aber ich kann nicht von ihnen reden. Sein Wesen, seine Stimme und die Art gewisser unerwarteter und leiser Bewegungen – alles das ist mir vergangen, wie er selbst vergangen ist. Es kann sein, daß mir das Wissen von diesen Eindrücken (die sehr stark waren) einmal zurückkommt in späteren Jahren, wenn ich ruhiger geworden bin und geduldiger.
Wenn ich mich jetzt zwinge, an diesen Menschen zu denken, – der eine Weile mit mir gelebt hat und eines Tages mein Leben verlassen hat, leise wie man ein Theater verläßt, bei offener Bühne, – so fallen mir nur jene Abende ein, da er, der Schweigsame, sprach, über mich fort sprach, als müßte er eine Frage beantworten, die in der Stille unseres entlegenen Hauses aufgestanden war. Ja er erzählte, wie man antwortet, wie man vielleicht einem Dinge antworten würde, wenn Dinge fragen könnten; manchmal glaubte ich Erinnerungen seines eigenen Lebens zu hören (von dem ich nichts wußte), oft aber schien er mir verschiedene Leben miteinander zu vermischen und zu verwechseln, und gerade dann waren seine Worte am überzeugendsten.
Nun sind Jahre vergangen. Ich wohne an einem anderen Orte. Ich höre seine Stimme nicht mehr, und mir ist, als hätte ich alle jene Begebenheiten, von denen sie zitterte, in einem Buche gelesen. Trotzdem, ich weiß, daß es dieses Buch nicht gibt, und darum soll es in diesen einsamen Tagen geschrieben werden.
(Zweite Fassung des Eingangs)
An einem Herbstabende eines dieser letzten Jahre besuchte Malte Laurids Brigge, ziemlich unerwartet, einen von den wenigen Bekannten, die er in Paris besaß. Es war ein schwerer, feuchter, gleichsam beständig fallender Abend; man fröstelte, ohne daß man eigentlich zu sagen vermochte, wo diese Kälte war; denn die Luft war dunkel und lau. So war es angenehm, die beiden Lehnstühle an das Kaminfeuer zu rücken. Dieses Feuer brannte träge, ohne eigentliche Lust; es legte sich beständig auf dem Holze, hin und erhob sich, wie von innerer Unruhe gezwungen, und versuchte wieder sich auszustrecken und warf sich, halbwach, hin und her. Der Schein des Feuers kam und ging über die Hände Brigges, die mit einer gewissen abgespannten Feierlichkeit nebeneinanderlagen wie die Gestalten eines Königs und seiner Gemahlin auf einer Grabplatte. Und die Bewegung des Scheines schien an diesen ruhenden Händen zu rühren, ja für den, der gegenübersaß und nur diese Hände sah, war es, als arbeiteten sie. Das Gesicht Malte Laurids Brigges aber war weit aus alledem fortgerückt, ins Dunkel hinein, und seine Worte kamen aus unbestimmter Entfernung, als er von sich zu sprechen begann. »Heute«, sagte er langsam, »heute ist es mir klargeworden. Klarheiten kommen so sonderbar; man ist nie vorbereitet auf sie. Sie kommen, während man auf einen Omnibus steigt, während man, die Speisekarte in der Hand, dasitzt, während die Kellnerin nebenan steht und anderswohin schauend wartet–; plötzlich sieht man nichts von alledem, was auf der Karte steht, man denkt gar nicht mehr daran zu essen: denn jetzt ist eine Klarheit gekommen, eben jetzt, während man mit müder, halb gleichgültiger Wichtigkeit die Namen von Speisen las, von Saucen und Gemüsen, eben jetzt ist sie eingetreten, als hätte unsere Seele keine Ahnung davon, womit wir uns in einem bestimmten Augenblicke beschäftigen. Heute kam mir diese Klarheit auf dem Boulevard des Capucines, während ich über den nassen Fahrdamm durch das fortwährende Fahren nach der Rue Richelieu hinüberzukommen versuchte, da, gerade mitten im Übergange, leuchtete es in mir auf und war eine Sekunde so hell, daß ich nicht allein eine sehr entfernte Erinnerung, sondern auch gewisse seltsame Zusammenhänge sah, durch welche eine frühe und scheinbar unwichtige Begebenheit meiner Kindheit mit meinem Leben verbunden ist. Ja es geschah, daß sie sich sogar aus allen anderen Erinnerungen mit einer besonderen Überlegenheit heraushob; es war mir, als wäre in ihr der Schlüssel gewesen für alle ferneren Türen meines Lebens, das Zauberwort für meine verschlossenen Berge, das goldene Horn, auf dessen Ruf hin immer Hülfe kommt. Als wäre mir damals der wichtigste Wink meines Lebens gegeben worden, ein Rat, eine Lehre – und nun ist alles verfehlt, nur weil ich diesen Rat nicht befolgt, weil ich diesen Wink nicht verstanden habe; weil ich nicht gelernt habe, nicht aufzustehen, wenn sie eintreten und vorübergehen, die, welche eigentlich nicht kommen dürften, die Unerklärlichen. Mein Vater hat es noch gekonnt, er kämpfte damit, ich sah, welche Anstrengung es ihn kostete, nicht wieder aufzuspringen, – aber schließlich konnte er es; er blieb bei Tische sitzen, freilich, er hatte auch dann noch nicht die vornehme Gelassenheit meines Großvaters; er konnte niemals essen, während sie vorübergingen; seine Hände zitterten, sein Gesicht verzerrte sich auf eine fremde und fürchterliche