Der ganze, weite Wald schien das Christfest mitzufeiern. Die hohen, schwarzen Tannen standen weit im Umkreis wie ehrfurchtsvolle Beter und staunten das just noch so unbedeutende Bäumchen an, wie Menschen ein Wunderkind betrachten. Die fernen Sterne sogar schienen sich über der Stelle zusammenzudrängen, um ja nichts von dem Schauspiel zu verlieren und dem lieben Gott und den Engeln und der guten Mutter der kleinen Elisabeth erzählen zu können, was für ein braves Kind sie wäre.
Auf den dämmerigen Waldwegen aber kamen große schwarze Vögel in neugierigen Sprüngen näher. Die könnten auch Hunger haben, dachte das Kind; Betty verspürte keine Furcht, und so teilte sie das mächtige Kuchenherz mit den gierigen Gästen. Ihr ward so froh und so selig, daß sie hätte singen mögen, wenn sie nur ein recht schönes, würdiges Lied gewußt hätte.
Die Kerzen waren schon ziemlich tief gebrannt; da setzte sich die Kleine zu Füßen des Heiligenbildes hin mit glücklichen Augen und frostblauen Händchen. Aber vom Frieren fühlte sie nichts. Es war so wunderstill um sie, und wenn sie die Augen schloß, so sah sie sich auf dem Schooß der teuren Mutter sitzen in warmer, traulicher Stube. Die Uhr tickte in gemessenem, behäbigem Takte, und der Wind schraubte sich in den prasselnden Kamin. Die Mutter strich ihr leise und zärtlich über den Scheitel und küßte sie mit roten, weichen Lippen mitten auf die Stirn. Und sie war schön, die Mutter, schön, wie die Fee im Märchen von Andersen, und trug eine seltsame Krone im reichen, flutenden Haar. Und sie anschauen war gut …
So kam es, daß die kleine, arme Elisabeth ein schöneres Christfest hatte, als die reichen, satten Kinder in den schimmernden Stuben.
Sie war sehr glücklich. Und dieses Glück leuchtete auf dem kleinen Gesichte, wie sie so zu Füßen der Madonnensäule schlief. Die Händchen waren fest und treu gefaltet, und vom Steinbild floß ein schwarzer Schatten über das lächelnde Kind, als hätte die gnädige Himmelsfrau einen schützenden Schleier darüber gebreitet.
Das Bäumchen strahlte noch einmal hell auf in mählich verlöschender Pracht, und es hub ein Schneien an, langsam und feierlich, als schwebten alle Sterne zur Erde nieder.
Zwei Waisenkinder gingen an diesem Weihnachtsabend spät aus der Stadt dorfwärts durch den Wald. Und sie erzählten dem Pfarrer im Dorfe atemlos, mit glänzenden Augen: »Wir haben das Christkind gesehen mitten im Wald. Es lag neben einem herrlich leuchtenden Bäumchen und ruhte aus. Und es war schön, das Christkind, so schön …«
Pierre Dumont (1894)
Die Lokomotive schmetterte einen schier endlosen Pfiff in die blaue Luft des schwülen, lichtflimmernden Augustmittags. Pierre saß mit seiner Mutter in einem Abteil zweiter Klasse. Die Mutter eine kleine, bewegliche Frau in schlichtem, schwarzem Tuchkleide, mit einem blassen, guten Gesicht und erloschenen trüben Augen, Offizierswitwe. Ihr Sohn ein kaum elfjähriger Knirps in der Uniform der Militär-Erziehungsanstalten.
»Da sind wir«, sagte Pierre laut und freudig und hob sein schlichtes graues Kofferchen aus dem Garnnetz. In großen, steifen, ärarischen Lettern stand darauf zu lesen: Pierre Dummont. I. Jahrgang N° 20. Die Mutter sah schweigend vor sich hin. Jetzt kamen ihr die großen, eigensinnigen Buchstaben vor Augen, als der Kleine das Gepäcksstück auf den Sitz gegenüber stellte. Sie hatte sie schon hundertmal wohl auf der mehrstündigen Reise gelesen. Und sie seufzte. Sie war nicht gerade empfindsam und hatte an der Seite des verstorbenen Kapitäns das Wesen des Soldatenlebens kennen gelernt und sich daran gewöhnt. Aber das tat ihrem Mutterstolze doch weh, daß ihr Pierre, dessen kleine Person eine gar bedeutende Persönlichkeit in ihrem Herzen darstellte, so zur Nummer herabgedrückt worden war. Nº 20. Wie das klang!
Pierre stand indessen am Fenster und schaute in die Gegend hinaus. Sie waren hart vor der Station. Der Zug fuhr langsamer und polterte über die Wechsel. Draußen glitten grüne Grasdämme, weite Flächen und winzige Häuschen vorüber, an deren Türen riesige Sonnenblumen mit ihren gelben Heiligenscheinen als Wächter standen. Die Türen aber waren so klein, daß Pierre dachte, er müßte sich wohl gar auch bücken, um eintreten zu können. Da verloren sich schon die Häuschen. Schwarze, rauchige Magazine kamen mit vielfach geteilten, blinden Scheiben, die Bahn wurde immer breiter, ein Geleise wuchs neben dem andern hervor, und endlich fuhren sie mit lautem Brausen und Zischen in die Bahnhofhalle des kleinen Städtchens ein.
»Wir wollen heute noch recht, recht lustig sein, Mama«, flüsterte der Kleine und umfaßte die erschrockene Frau mit stürmischem Ungestüm. Dann hob er den Koffer heraus und war seinem Mütterchen beim Aussteigen behilflich. Mit stolzer Miene reichte er ihr dann den Arm, den Frau Dumont, obwohl sie nicht groß war, nur insoweit annehmen konnte, daß sie ihrem Kavalier die linke Hand unter die Achsel schob. Ein Diener hatte sich des Koffers bemächtigt. So wanderten sie denn durch den glutheißen Mittag die staubige Straße dem Gasthofe zu.
»Was wollen wir speisen, Mutter?«
»Was du willst, Liebling!«
Und jetzt erörterte Pierre alle seine Lieblingsspeisen, mit denen man ihn zuhause während der zweimonatlichen Ferien gefüttert hatte. Ob das und jenes hier auch zu haben wäre. Und man sprach von der Suppe bis zum Apfelkuchen mit der Cremehaube alles mit lukullischer Genauigkeit durch. Der kleine Soldat war voll des Scherzes; diese Lieblingsgerichte schienen die Wirbelsäule seines Lebens zu bilden, an deren Grundstock sich erst alle anderen Ereignisse anfügten. Denn immer wieder begann er: Weißt du, als wir das und das zum letztenmale aßen, da war dies und jenes geschehen. Freilich kam ihm dabei auch in den Sinn, daß er ja heute für vier Monate zum letzten Mal solcher Genüsse sich erfreuen würde, und dann ward er ein wenig still und seufzte ganz leise. Aber der sonnige, fröhliche Sommertag verfehlte seine Wirkung auf das Kindergemüt nicht, und er schwatzte bald wieder in übermütiger Weise fort und durchdachte die schönen Tage des schwindenden Urlaubs. Jetzt war es zwei Uhr mittags. Um sieben Uhr mußte er in der Kaserne sein also noch fünf Stunden. Fünfmal also mußte der große Zeiger noch rund ums Zifferblatt laufen das ist ja noch sehr, sehr lange.
Das Essen war vorüber. Pierre hatte tüchtig zugesprochen. Nur als die Mutter ihm den roten Wein einschenkte, mit nassen Augen ein wenig das Glas hob und ihn bedeutungsvoll anschaute, da blieb ihm der Bissen in der Kehle stecken. Sein Blick wanderte durchs Zimmer. Auf dem Zifferblatt blieb er haften: es war drei Uhr. Viermal muß der Zeiger … dachte er. Das gab ihm Mut. Er hob seinen Kelch und stieß etwas heftig an. »Auf recht frohes Wiedersehen, Mütterchen!« Seine Stimme klang hart und verändert. Und rasch küßte er, als fürchtete er wieder weich zu werden, die kleine Frau auf die bleiche Stirne.
Nach dem Essen gingen sie selbander am Flußufer auf und nieder. Wenig Leute begegneten ihnen. Sie konnten ganz ungestört miteinander sprechen. Aber das Gespräch stockte oft. Pierre trug den Kopf hoch, hielt beide Hände in den Hosentaschen und schaute mit großen, blauen Augen geistesabwesend hinüber über den glastenden Fluß auf die violetten Hänge des jenseitigen Ufers. Frau Dumont aber bemerkte, wie in der Allee, welche sie durchschritten, die Blätter schon gelb und matt wurden. Hie und da lagen sogar schon welche auf dem Wege; als eines unter ihrem Fuße knirschte, erschrak sie.
»Es wird Herbst«, sagte sie leise.
»Ja«, murmelte Pierre zwischen den Zähnen.
»Aber wir haben einen schönen Sommer gehabt « fuhr Frau Dumont fast verlegen fort.
Ihr Sohn antwortete nicht.
»Mutter«, er wandte ihr das Gesicht nicht zu, während er so sprach, »Mutter, der lieben Julie sagst du meine Grüße nichtwahr.« Er verstummte und ward rot.
Die Mutter lächelte: »Du kannst dich darauf verlassen, mein Pierre.« Julie war ein Cousinchen, für das der kleine Kavalier schwärmte. Er hatte ihr oft Fensterpromenaden gemacht, hatte mit ihr Ball gespielt, ihr Blumen geschenkt