Der sechste Passagier. Theodor Kallifatides. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Theodor Kallifatides
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711441480
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Gesicht langsam einen nachdenklichen Ausdruck annahm. Dann sah sie wieder die beiden Polizistinnen an, mit einem schüchternen, leicht gequälten Lächeln.

      Sie wiederholte, daß sie keine Ahnung habe, wie der sechste Passagier an Bord gekommen sei. Sie hatte auch keine Ahnung, wer er sein konnte. Aber sie hatte eine Theorie, die besagte, daß der unbekannte Junge mit einem Erwachsenen zusammen gereist war und daß der Pilot ihn vielleicht deshalb nicht erwähnt hatte.

      Daran hatte Kristina auch schon gedacht. Aber dann lautete die Frage: Mit wem war er gereist?

      Nicki senkte den Blick und strich sich mit einer Hand durchs Haar. Sie konnten nichts tun, als ihr ansprechendes Äußeres zu bewundern und auf ihre Antwort zu warten, wenn sie denn eine hatte.

      Sie hatte eine. Es widerstrebte ihr, das zu sagen, aber die einzige Person, die einen Extra-Passagier mitnehmen durfte, war der Pilot selbst.

      Das klang plausibel. Daß sie daran nicht gedacht hatten!

      Maria sah den Schimmer von Befriedigung in Nikkis Augen und ließ einen Versuchsballon los. Wie gut hatte sie den Piloten gekannt?

      Ja, wie gut kann man seine Angestellten kennen? Er war von Anfang an dabeigewesen, er war ein großartiger Pilot, immer pünktlich, ruhig, konzentriert. Sie hatte keinen Grund zur Klage. Das alles bedeutete nicht, daß sie ihn wirklich kannte, und sie fügte mit einer gewissen Ironie hinzu: »Männer sind wie Kleidungsstücke. Man muß sie anziehen, um zu sehen, ob sie passen.«

      Diese Ansicht wurde anscheinend von den beiden anderen Frauen geteilt, sie fragten jedenfalls nicht weiter.

      Sie wollten gerade aufstehen und gehen, als ein junger Mann in das Restaurant stürmte. Er war klein und schlank und streckte den Kopf vor, wie es viele Kurzsichtige tun. Sein Haar stand nach allen Richtungen ab, was ihn einem Igel ähneln ließ.

      Nikki strahlte, erhob sich mit ausgebreiteten Armen und drückte ihn an ihre duftende Brust.

      Es war Erland von Lauterhorn, ihr Verflossener. Er war vor einer halben Stunde in Arlanda gelandet, hatte einen Hubschrauber gemietet, der ihn auf der Uferstraße in Gamla Stan abgesetzt hatte, und nun war er da. Er hatte eine Stunde Zeit, bevor er wieder nach Arlanda mußte, um nach Reykjavik weiterzufliegen.

      Er sah die beiden Polizistinnen fragend an, und Nikki stellte sie vor. Er schüttelte ihnen energisch, aber kurz die Hand, denn er wußte, daß er zu feuchten Handflächen neigte. Dann nahm er sich ein übriggebliebenes Croissant und fing an zu kauen, mit deutlich sichtbaren Lippenbewegungen, wie ein kleines Kind.

      Es wurde Zeit, sich zu verabschieden.

      Sie konnten nicht umhin, sich zu fragen, ob Nikki von Lauterhorn die Wahrheit gesagt hatte, aber sie hätten sich diese Frage auch nach einem Gespräch mit dem Papst gestellt.

      Maria fand jedenfalls, die schöne Nikki und das New-Economy-Genie seien ein süßes Paar; schade nur, daß sie es nicht mehr waren. Andererseits gab es ja kaum noch Paare, obwohl ständig neue gebildet wurden. Irgendwie ist es auch tröstlich, daß der Mensch nie dazulernt.

      11

      Östen Nilsson hatte gute Arbeit geleistet. Der Bericht über die Verunglückten, den er auf Kristinas Schreibtisch gelegt hatte, war sorgfältig und beinahe lückenlos recherchiert.

      Der Pilot Fredrik Stolle war zweiunddreißig Jahre alt, verheiratet, hatte zwei Kinder und war vor kurzem von Ängelholm nach Trelleborg gezogen. Nach Auskunft seines früheren Chefs beim Fluggeschwader von Ängelholm war er ein geborener Flieger und ein guter Kamerad, einer, mit dem jeder zusammen fliegen wollte. Die Luftwaffe hatte einen erstklassigen Piloten verloren, als er zu Nikki Air wechselte. Aber jetzt, da die Politiker sich entschlossen hatten, die Streitkräfte abzuschaffen, war ihm wohl nichts anderes übriggeblieben.

      Daß Stolle an dem Unglück schuld gewesen sei, konnte er sich nicht denken.

      Auch Anders Lalleholm war noch jung, fünfunddreißig Jahre. Er war der Gründer der New-Economy-Firma »Domabilis«. Lalleholm war nicht verheiratet, hatte allein in einer Wohnung in dem Appartementhaus am Medborgarplats gelebt, das man »den Turm« nannte. Seine Eltern wohnten in Örnsköldsvik.

      Kristina notierte »alleinstehend« und machte zwei dicke Striche darunter.

      Dann las sie weiter.

      Lars Fältgård war einundfünfzig, der jüngste Justizrat aller Zeiten. Man sagte ihm nach, er habe gute Beziehungen zu Regierungskreisen, unabhängig davon, wer gerade am Ruder war. Verheiratet, fünf Kinder und eine Villa im Hagaväg in Djursholm.

      Eine Stütze der Gesellschaft, mit anderen Worten. Über ihn konnte man sagen, was Strindberg über sein Kopfhaar gesagt hatte: es sei über jeden Zweifel erhaben.

      Es gäbe keinen dringenden Grund, sich näher mit ihm zu befassen, meinte Östen, und Kristina war derselben Ansicht.

      Erik Jönsson war erst einundzwanzig, ein wohlgestalteter junger Mann auf dem Weg in die Spitzenklasse des Tennissports. Aus steuerlichen Gründen war er vor kurzem nach Monaco gezogen, aber seine Eltern wohnten immer noch in Söderköping.

      »Völlig uninteressant«, hatte Östen notiert.

      Nichts und niemand war völlig uninteressant, dachte Kristina, aber mit Jönsson konnte sie sich wohl ebenfalls Zeit lassen.

      Dino Armagnoni war dreiundvierzig, zum dritten Mal verheiratet und ein bekannter Gastwirt in Stockholm. Eines seiner Restaurants war abgebrannt, was eine Klage wegen Versicherungsbetrugs nach sich gezogen hatte, aber es gab keine Beweise, und die Klage wurde abgewiesen. Er hatte mit seiner dritten Frau zusammengelebt, die fünfunddreißig war und Fernsehstar. Sie moderierte bei einem Privatsender eine Talkshow, in der die Gäste, meist Prominente von mehr oder weniger zweifelhaftem Ruf, über ihre sexuellen Erlebnisse redeten.

      »Näher untersuchen«, fand Östen, und das hätte wohl jeder so gesehen. Armagnoni bekam drei Ausrufezeichen hinter seinen Namen.

      Man stelle sich vor, dies wäre ein Grabstein.

      »Hier ruht Dino Armagnoni!!!«

      Sie nahm sich zusammen und las weiter, über Ninni Lou, die eigentlich Larsson hieß, aber nach ihrem Durchbruch als Popsängerin ihren Namen geändert hatte. Sie war noch nicht ganz siebzehn gewesen, hatte ihre eigenen Texte und Melodien geschrieben und wurde von Vierzehnjährigen in ganz Schweden vergöttert. Um die Wahrheit zu sagen, auch Östen fand sie toll. Man munkelte, sie habe eine heiße Romanze mit dem Prinzen irgendeines Landes, wahrscheinlich Luxemburg, gehabt.

      »Die können wir vergessen«, lautete Östens Kommentar, und möglicherweise hatte er recht.

      Kristina las den Bericht noch einmal durch, während sie versuchte, irgendein Muster zu erkennen, einen Zusammenhang zwischen den Passagieren. Sie konnte nichts dergleichen entdecken. Es war nicht einmal anzunehmen, daß sie einander kannten. Es war nichts Auffälliges daran.

      Aber etwas war doch merkwürdig. Alle hatten in einem Flugzeug gesessen, das von einer Firma gechartert worden war, mit der sie anscheinend gar nichts zu tun hatten. Nikki von Lauterhorn hatte gesagt, ein Kosmetik-Unternehmen namens »Eternal Youth« habe die Maschine gemietet.

      Welche Verbindung bestand zwischen den Passagieren und »Eternal Youth«?

      Das war eine naheliegende Frage, und sie war vermutlich leichter zu beantworten als die beiden anderen: Hatte der Junge etwas mit einem der übrigen Passagiere zu tun, und wenn ja, mit wem?

      Sie verspürte das Bedürfnis, sich eine Theorie zurechtzulegen, etwas, das sie gezielt verfolgen konnte. Eine kriminalistische Ermittlung ähnelt in mancher Hinsicht einer Schachpartie. Man muß einen Plan haben, und ein schlechter ist immer noch besser als gar keiner.

      Vorläufig hatte sie nichts in der Hand. Die Partie hatte gerade angefangen, und der erste Zug war, wie üblich, nicht der ihre gewesen.

      Sie las Östens Bericht zum dritten Mal.

      12

      Die