Der sechste Passagier. Theodor Kallifatides. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Theodor Kallifatides
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711441480
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      Sie weinte. Was hätte sie sonst tun sollen?

      Sie weinte den ganzen Weg von Sundsvall nach Stockholm, während die Erkenntnis, daß der Verlust endgültig war, sich immer tiefer in ihr festsetzte. Darüber weinte sie noch mehr.

      Nun saßen sie in Kristinas Garten. In diesem regnerischen Sommer waren die Fliederbüsche in die Höhe geschossen, auch der Ahorn, den Kristina und ihr Mann gemeinsam gepflanzt hatten, als sie das Haus kauften. Der See, der weiter unten lag, wurde immer dunkler. Maria wollte nicht nach Hause, und Kristina wollte nicht allein sein. Sie tranken langsam und redeten leise.

      Morgen würden sie die Arbeit in Angriff nehmen. Ein rätselhafter Junge war an Bord des verunglückten Flugzeugs gewesen, und sie mußten denjenigen oder diejenigen finden, die etwas darüber wußten.

      Im Augenblick konnten sie nichts tun, als weiter an einem Flickenteppich zu weben, auf dem ihre Freundschaft barfuß gehen konnte.

      Kristina erkannte in allem, was Maria erzählte, den Aufstieg und Fall ihrer eigenen Ehe wieder. Obwohl sie nie auf den Gedanken gekommen war, daß Liebe eine Energie sei, die sich verbraucht wie jede andere Form von Energie. Die optimistische Sicht der Dinge war, daß man um so mehr Liebe zurückbekommt, je mehr Liebe man gibt.

      Vielleicht war das ein Irrtum. Sie war nicht imstande, den Gedankengang bis zu Ende zu verfolgen. In diesem Moment war sie vollkommen zufrieden, hier zu sitzen und Marias Stimme zu lauschen, während die Nacht unschlüssig über den Gärten schwebte.

      Es war nach elf, als sie sich mit der angenehmen Gewißheit trennten, daß sie sich schon am nächsten Tag wiedersehen würden.

      Kristina war müde, aber nicht schläfrig. Sie schenkte sich noch ein Glas Wein ein und löschte alle Lichter im Haus. Sie wollte nachdenken, aber wie es so oft der Fall ist, wenn man nachdenken will, dachte sie an gar nichts.

      Sie sah nur ein Bild vor sich, das Gesicht eines dunkelhäutigen Jungen. Sie mußte versuchen, dem Gesicht einen Namen zu geben.

      9

      In der Nacht schlug das Wetter um. Das Hochdruckgebiet zog weiter nach Norden, verdrängt durch ein atlantisches Tiefdruckgebiet, das von den Britischen Inseln kam.

      Dunst lag so dicht über dem Wasser, daß er nicht mehr davon zu unterscheiden war. Es herrschte völlige Windstille, nur das oberste Espenlaub regte sich.

      Kristina wachte mit leichten Kopfschmerzen auf, die sie wegzumassieren versuchte. Zur Sicherheit nahm sie dann doch zwei Tabletten. Eine Stunde später betrat sie den Besprechungsraum.

      Östen Nilsson war schon da. Noch sonnengebräunt von seinem Urlaub auf Farö, wo er endlich sein Sommerhaus in Ordnung gebracht hatte, überwachte er die Kaffeemaschine. Es duftete angenehm.

      Kurz danach tauchte Thomas Roth auf. Er brachte einen Kirschkuchen mit, den seine Frau gebacken hatte. Maria erschien wie üblich als letzte. Sie war ja auch die Jüngste und brauchte ihren Morgenschlaf.

      Sie tranken Kaffee und langten beim Kuchen kräftig zu. Sie redeten ohne Hektik miteinander. Noch waren die Urlaubswochen in ihren Stimmen und Gesten gegenwärtig. An einem solchen Morgen ist das Leben weich und entspannt.

      Auch wenn die Wirklichkeit ganz anders aussieht.

      Das Flugzeugunglück beherrschte die Titelseiten sämtlicher Zeitungen. Man spekulierte über die Ursachen, die Havariekommission hatte bislang weder die Maschine noch deren Black Box untersucht. Man spekulierte auch über den unbekannten Passagier, den Jungen, und stellte die Theorie auf, daß es sich um einen illegalen Einwanderer handeln könne.

      Das war durchaus möglich. Unmöglich war in diesen Zeiten nichts. Vor kurzem erst hatte man zwei junge Filipinos erfroren im Motorraum eines Charterflugzeugs aufgefunden.

      Die Abendzeitungen neigten mehr zur Pädophilie-Hypothese. Auch das war nicht so abwegig. Die Polizei hoffte freilich, daß es nichts Derartiges sein möge. Die Erfahrung hatte gezeigt, daß Ermittlungen wegen Pädophilie in die breitesten Kreise wie in die obersten Schichten der Gesellschaft führen können.

      Maria hoffte, daß es eine einfache Erklärung geben würde, das ließ sich mit ihrem Sinn fürs Tragische besser vereinbaren. Verbrechen sind selten tragisch, sie sind eher einfältig.

      Thomas schüttelte energisch den Kopf, um sie daran zu erinnern, daß man sich als Polizist nicht zu sehr vom Wunschdenken leiten lassen darf, was die Realität betrifft.

      Östen verteidigte Maria, und sie errötete vor Freude. Sie war heimlich in ihn verliebt, so heimlich, daß sie nahe daran war, es zu vergessen.

      Kristina verteilte rasch die Arbeit. Östen, der in der Gruppe aus irgendeinem Grund als Computergenie galt, sollte soviel wie möglich über die Opfer herausfinden. Thomas sollte den Kontakt zur Marine und zur Havariekommission halten. Und Maria sollte Kristina begleiten.

      10

      Nikki von Lauterhorn saß im französischen Restaurant des Stockholmer Grand Hotels, das im Guide Michelin von 1987 wahrhaftig einen Stern erhalten hatte. Von ihrem Tisch hatte sie einen weiten Ausblick, vom Schloß bis zur Ersta-Kapelle, einer der wenigen achteckigen Kirchen Schwedens. Dazwischen sah man Slussen und die vielen Verkaufsstände, die tagsüber frisch gebratene Heringe, Blumen, Bücher, Gemüse und Obst anboten. Nachts wurde hier mit ganz anderen Dingen gehandelt.

      Sie wußte das, denn sie war früher oft dort gewesen. Wenn sie Zeit gehabt hätte, wäre sie gern wieder hingegangen. Sie war Millionärin, aber auf das Vergnügen des billigen Einkaufs mochte sie nicht verzichten. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie in Eskilstuna jeden Samstagmorgen an der Hand ihrer alleinerziehenden Mutter über den Großmarkt geschlendert war, wo alle möglichen Leute alle möglichen Sachen verkauften.

      Dort hatte ihre Karriere in der Schönheitsbranche eigentlich begonnen. Mehr als einmal war es passiert, daß ein älterer Iraner mit scharfgeschnittenen Zügen eine Lobeshymne auf die Mutter anstimmte, die ein so hübsches Kind zur Welt gebracht hatte, und ihnen deshalb einen ansehnlichen Rabatt auf seine Ware in Aussicht stellte.

      Jetzt wartete sie auf Kommissarin Kristina Vendel. Was für eine griesgrämige Alte würden sie ihr da auf den Hals schicken?

      Als wäre es nicht genug, daß sie ihren Liebsten und ihr Flugzeug verloren hatte, riskierte sie nun auch noch, die Erstattungssumme der Versicherungsgesellschaft einzubüßen. Die würde keinen roten Heller herausrücken, wenn sich herausstellte, daß der Pilot in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen war. Das hatte ihr Anwalt ihr bei einem gemeinsamen Frühstück erklärt. Versicherungsgesellschaften sind nämlich höher versichert als irgend jemand sonst. Außerdem würde man sie zwingen, den Angehörigen der Opfer einen Schadensersatz in enormer Höhe zu zahlen. Wenn es ganz schlimm kam, würde sie bald wieder mit ihrer Mutter auf dem Großmarkt in Eskilstuna einkaufen.

      Sie war erleichtert (wenn man unter solchen Umständen davon sprechen kann), als Kristina und Maria von einem Portier an ihren Tisch geführt wurden.

      Sie verstanden sich auf Anhieb.

      Kristina war nicht gekommen, um sich in die wirtschaftlichen Konsequenzen des Unglücks zu vertiefen. Sie vermutete auch kein Verbrechen. Sie wollte nur wissen, wie es dazu gekommen war, daß sich ein überzähliger Passagier an Bord befand.

      Nikki wußte es nicht. Aber sie wollte der Polizei helfen, so gut sie es vermochte. Das lag auch in ihrem Interesse, denn sonst konnte es Probleme mit der Versicherung geben. Deshalb wollte auch sie die Angelegenheit so schnell wie möglich aus der Welt schaffen.

      Sie sagte das alles in einem geschäftsmäßigen Ton, der wie auswendig gelernt klang. Das schmälerte zwar ihre Glaubwürdigkeit, nicht aber die Logik ihrer Ausführungen, was den Effekt hatte, daß die Polizistinnen ihr mit einer Spur Widerwillen zuhörten.

      Das begriff sie sofort. In ihren Jahren auf den Laufstegen der Welt hatte sie ein sehr feines Gespür für Stimmungen entwickelt. Ein Schatten im Blick eines anderen genügte, damit sie ihr Verhalten änderte.

      Sie