Der sechste Passagier. Theodor Kallifatides. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Theodor Kallifatides
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711441480
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große Villa verkauft und waren in einen entfernten Ort gezogen. Und doch hatte Kristina beobachtet, daß sie abends in der Gegend herumschlichen, um das Haus noch einmal zu sehen, in dem sich jetzt eine andere Familie eingerichtet hatte.

      Auch sie würde ihr Haus verkaufen müssen. Sie konnte sich nicht leisten, es zu behalten. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie es gewollt hätte. Johan, ihr Exmann, war ihr dort viel zu nahe. Er hatte das Haus gestrichen, hatte geschreinert und dekoriert. Sie kümmerte sich nicht um solche Dinge, aber es hatte ihr sehr gefallen, ihn in Tischlerhosen zu sehen. Sein erotischstes Kleidungsstück. Im Smoking sah er aus wie eine verkleideter Handwerker, in Arbeitsklamotten wie ein verkleideter Prinz.

      Im Garten, unter den Fliederbüschen, hatten sie ein Versteck, wo niemand sie beobachten konnte. Dort hatten sie sich manchmal geliebt, unvermittelt und wild, wie Tiere, Dachse vielleicht. Danach schämten sie sich ein wenig voreinander, wie zwei Fremde.

      Um Himmels willen! Gerade war sie Zeugin eines schrecklichen Unglücks geworden, und das einzige, woran sie denken konnte, war Sex.

      Nein, das stimmte nicht. Ein anderer Teil ihres Gehirns, irgendwo im Stirnbereich, war eifrig damit beschäftigt, die nächsten Schritte zu planen. Als erstes mußte sie Nikki Air ausfindig machen. Sie schlug das Telefonbuch auf. Kein Eintrag. Vielleicht eine ausländische Firma, die keine Niederlassung in Schweden hatte?

      Sie rief am Flughafen Bromma an. Das Besetztzeichen tutete. Kein Wunder. Am besten fuhr sie gleich hin. Das war auf jeden Fall das Effektivste. Wenn man telefonisch Auskünfte einholen will, erfährt man in der Regel nur, was der andere nicht weiß. Konkrete Angaben bekommt man allenfalls von der Zeitansage.

      Im Umkleideraum für Polizistinnen ging sie rasch unter die Dusche. Sie hatte sich selbst gelobt, nicht in den Spiegel zu schauen, und sie hielt sich daran.

      Sie zog ihre Uniform an und fühlte sich sofort sicherer. Als sie ihr Haar bürstete, klingelte das Telefon. Maria Valetieri, ihre Assistentin, hatte die Nachricht im Radio gehört. Der Reporter hatte Kristina als Augenzeugin erwähnt, »die prominente Chefin des Gewalttaten-Dezernats von Huddinge«.

      Maria wollte wissen, ob sie gebraucht wurde, sie hatte ohnehin nichts zu tun, saß nur da und fing Fliegen, wie sie behauptete. Sie konnte sofort kommen.

      Kristina war froh, ihre Stimme zu hören, die ein wenig heiser war und die unschuldigsten Wörter irgendwie verdächtig, ja fast unanständig klingen ließ. »Maria, du hättest nicht Polizistin werden sollen, sondern Mafiosa«, sagte sie manchmal zu ihr.

      Kaum hatte sie den Hörer aufgelegt, merkte sie, daß sie Hunger hatte. Die Kantine des Polizeireviers war bestimmt nicht geöffnet. Sie versuchte es am Automaten, steckte zwei Fünfkronenstücke hinein, um eine Tafel Schokolade zu ziehen, doch es kam nichts heraus. Wütend schlug sie mit der flachen Hand auf das Gerät, es rasselte, und sie bekam zehn Fünfer zurück, aber keine Schokolade.

      Sie rief Maria auf dem Handy an und schlug vor, sich bei McDonald’s im Zentrum von Huddinge zu treffen. Das war der einzige Ort, wo man um diese Zeit etwas zu essen bekam. Alles andere war geschlossen, sogar die Wurstbude am Bahnhof.

      Immer hatte man sonntags dieses Problem, aber früher war es noch schlimmer gewesen. Als ihr Vater sein erstes Weihnachtsfest in Schweden verbrachte, suchte er vergeblich nach einer Gaststätte. Schließlich aß er eine Dose Hundefutter, die seine Vermieterin in der Speisekammer vergessen hatte.

      Maria, deren Vater Pizzabäcker war, verkündete, daß sie niemals ihren Fuß in eine McDonald’s-Filiale setzen würde. Sie erklärte sich bereit, Butterbrote mitzubringen. Ihr Angebot wurde dankbar angenommen.

      5

      Man könnte Bromma einen hochnäsigen Vorort nennen. Die Villen dort strahlen Wohlstand und Selbstzufriedenheit aus, aber auch eine gewisse Besorgnis.

      Kristina und Maria sahen, wie Männer und Frauen auf ihren Sonnenterrassen saßen oder sich der Gartenarbeit widmeten, mit jener mühsam erkämpften Nonchalance, die das Kennzeichen der aufstrebenden Mittelklasse ist. Hier wohnten höhere Beamte, Politiker und Unternehmer, denen der Flugplatz mitten in ihrem Wohnviertel ein Dorn im Auge war, obwohl er gleichzeitig als Statussymbol galt.

      Ein Flugplatz übrigens, mit dem das moderne Schweden ein paar glanzvolle Erinnerungen verband. Hier war Anita Ekberg gelandet, nachdem sie in »La Dolce Vita« mitgespielt hatte, hier waren Ingrid Bergman und Roberto Rossellini angekommen. Die jüngeren Leute wußten natürlich nichts davon und wollten den Flugplatz aus Umwelt- und Sicherheitsgründen schließen lassen. Es hatte Unfälle gegeben, in Abrahamsberg war ein Passagierflugzeug abgestürzt, der Lärmpegel war hoch.

      Aber bislang leistete die alte Garde noch Widerstand. Das auffälligste Merkmal der Mittelklasse sind heftige Generationskonflikte. In der Oberschicht versucht die junge Generation, die Privilegien der älteren zu übernehmen, und in der Arbeiterklasse ist die Jugend bestrebt, ihre Herkunft zu verleugnen, aber in der Mittelschicht würden die Jungen die Alten am liebsten einfach auslöschen, sie zu unmündigen, brabbelnden Idioten erklären.

      In der Oberschicht hat man hin und wieder Sorgen, in der Unterschicht hat man kein Geld, und in der Mittelschicht hat man Angst. Die Mittelschicht hat die Angst sozusagen erfunden.

      Man kann sie fühlen, so merkwürdig es auch klingen mag – sie schwebt über den Villen und Gärten, sie nistet in den Fältchen, die sich um den Mund der Frauen bilden, und im entschlossenen Gang der Männer, die wissen, daß sie eigentlich kein Ziel haben.

      Sogar in das Auto, in dem die beiden Polizistinnen schweigend saßen, kroch sie hinein. Es war fast drei Uhr, der Himmel hatte sich von Osten her bewölkt, im Radio war für den Abend Regen angekündigt worden. Nichts Neues von dem verunglückten Flugzeug.

      Kristina hatte keinen klaren Plan für ihr Vorgehen, aber Maria fand, daß man bei dem Fluglotsen anfangen sollte, der Kontakt mit dem Piloten gehabt hatte. Vielleicht wußte er etwas, das sie weiterbringen würde.

      Der Lotse war ein junger Mann, eine Urlaubsvertretung, und er war völlig verzweifelt. Dies war sein erster Unfall. Gerade hatte er das Flugzeug noch auf dem Radarschirm gesehen, im nächsten Moment war es verschwunden. Es war gespenstisch. Ein kleiner Punkt mit einer Gruppe von Menschen an Bord, ein elektronisches Signal voller Lebewesen, das er mit knappen, präzisen Anweisungen dirigiert hatte, um es in die richtige Position für die Landung zu bringen, und das ihn am Ende zum Narren gehalten hatte wie der Blick eines jungen Mädchens im Vorübergehen.

      Er hatte in sein Funkgerät gerufen, dann geschrien, und als ihm klar wurde, was geschehen war, hatte er geweint. Alle wußten, daß ihn keine Schuld traf, trotzdem mußte er es immer wieder beteuern.

      Er riß sich zusammen und beantwortete ein paar einfache Fragen. Der Pilot hatte gesagt, daß der Öldruck plötzlich gesunken sei. Erst fiel der eine Motor aus, dann der andere. Sie hatten die ganze Zeit Kontakt gehabt, bis das Flugzeug einfach verschwand. Er wußte nicht, wie viele Leute an Bord gewesen waren, und von Nikki Air wußte er auch nichts. Er verwies sie an den Aufklärungsdienst, der tatsächlich in der Zwischenzeit einiges herausgefunden hatte.

      Nikki Air war eine kleine Fluggesellschaft mit Sitz in Trelleborg, spezialisiert auf VIP-Transporte. Deshalb hatte Kristina sie im Telefonbuch nicht gefunden. Eine Passagierliste gab es nicht, man arbeitete hier nach etwas anderen Prinzipien, Diskretion war das zentrale Verkaufsargument. Am besten würde es sein, sich direkt an das Büro in Trelleborg zu wenden.

      Sie versuchten es sofort, aber es meldete sich nur ein Anrufbeantworter.

      Kristina rief Puskas an und fragte, ob die Bergung der Leichen etwas ergeben hätte. Noch nichts, lautete die Antwort. Aber die Marine hatte per Hubschrauber einige Taucher geschickt, die sich ein eigenes Bild von der Lage machen wollten. Sie hofften, in wenigen Stunden mit der Arbeit beginnen zu können.

      Mit anderen Worten: nichts Neues, nichts über die Passagiere oder den Piloten. Kristina war enttäuscht und müde, deshalb schlug sie vor, über Stockholm zurückzufahren und in der Konditorei am Mariatorg einzukehren, wo es die beste Möhrentorte der Stadt gab.

      Auf dem Platz war viel