Als die Mondsichel aus dem Fensterviereck verschwand, stand Jörn auf, holte das Fieberthermometer und ging damit zu Nofret. Leise und beruhigend sprach er zu ihr, ehe er das Thermometer einführte. Sie ließ es mit sich geschehen, ohne sich zu wehren, öffnete jedoch die Augen und starrte mit trübem Blick vor sich hin.
Nach zwei Minuten zog Jörn das Thermometer wieder heraus und trug es unter die Glühbirne. „Nur leicht erhöhte Temperatur“, sagte er. „Ein Glück. In einer Stunde kriegt sie Fencheltee.“
Dann lagen wir nebeneinander im Stroh und hielten uns im Arm. Jörn schlief bald ein. Ich bewegte mich nicht, um ihn nicht zu stören. Er hatte einen langen, anstrengenden Tag hinter sich und mußte müde sein. Sein Gesicht war dicht vor dem meinen; im Schlaf wirkte es gelöst und irgendwie kindlich. Ich konnte mir vorstellen, wie er als kleiner Junge ausgesehen haben mußte.
Es fiel mir nicht schwer, wachzubleiben. Ich lauschte auf Jörns Atemzüge, auf das seufzende Atmen der Stute, dachte an meine erste Nachtwache auf Dreililien zurück, als Marnie ihr Fohlen Nell zur Welt gebracht hatte. Damals hatte ich auch mit Jörn im Stall gesessen; etwas mehr als ein Jahr war es nun her.
Viel war seitdem geschehen, und manches hatte sich verändert. Neue Menschen waren nach Dreililien gekommen – Mikesch, ganze Scharen von Reitschülern, Helge -, neue Fohlen waren zur Welt gekommen, Pferde waren verkauft worden. Ich hatte eine kleine Schwester bekommen, der verfallene Gutshof war renoviert worden, weil Mikesch Geld geerbt hatte, Jörn hatte seine Schulausbildung abgeschlossen ...
Gegen Mitternacht stand ich sehr leise auf, nahm die Taschenlampe und tappte über den dunklen Innenhof zum Wohnhaus. Die schwere Eichentür war nicht abgeschlossen – hier versperrte man nie eine Tür. Ich ging durch die
Halle, den Flur entlang und in die große, ungemütliche Küche. Dort setzte ich Wasser auf, kochte Fencheltee, füllte ihn in eine der Nuckelflaschen, wie wir sie manchmal zur Aufzucht der Fohlen verwendeten, und kehrte dann in den Schafstall zurück.
Jörn war nicht aufgewacht. Noch einmal ging ich hinaus, holte eine Decke aus der Sattelkammer und breitete sie über ihn. Dann machte ich mich ziemlich unsicher daran, Nofret den Tee einzuflößen. Ich mußte unbedingt vermeiden, daß sie aufstand; sie durfte nicht beunruhigt oder gar geängstigt werden.
Sehr langsam und vorsichtig ging ich zu ihr, kniete vor ihrem Kopf nieder, die Flasche in der Hand, und flüsterte sanft: „Sieh mal, meine Gute – feiner Fencheltee! Den mußt du jetzt trinken, er wird dir guttun. Es kommt bald alles wieder in Ordnung, du wirst es schon sehen. Nächstes Jahr kriegst du wieder ein Fohlen. Das ist dann bestimmt gesund und stark.“
Nofret rührte sich nicht. Mit zitternder Hand führte ich die Flasche an ihr Maul, hob sehr vorsichtig ihre Oberlippe und drückte ihr das Saugstück zwischen die Zähne. Sie zuckte leicht mit den Ohren, wehrte sich jedoch nicht.
Langsam floß der Fencheltee ins Pferdemaul. Ein ziemlicher Teil der Flüssigkeit sickerte gleich wieder heraus, doch als ich Nofrets Hals beobachtete, merkte ich, daß sie Schluckbewegungen machte. Dann prustete sie leicht, öffnete die Augen weiter und hob den Kopf ein kleines Stück aus der Streu.
Erschrocken zog ich die Flasche zurück und wartete. „Du mußt den Tee trinken!“ flüsterte ich beschwörend.
„Hast du gehört? Er schmeckt doch gar nicht schlecht. Ich hab ein Stück Traubenzucker hineingetan. Also trink die Flasche aus, bitte!“
Müde legte Nofret den Kopf zurück. Ich schob ihr die Flasche erneut zwischen die Lippen und summte dabei leise vor mich hin wie bei einem kranken Kind, das man in den Schlaf singt. Vieles vom Tee lief daneben, doch sie schluckte immerhin ab und zu; ihren Kopf dabei anzuheben, wagte ich nicht.
Als die Flasche leer war, holte ich eine zweite Satteldekke und deckte die Stute damit zu. Sie ließ es mit sich geschehen wie alles andere. Den Mut, Fieber zu messen, hatte ich nicht. In etwa einer halben Stunde wollte ich Jörn wecken. Dann konnte er das übernehmen.
Das Stroh knisterte leise, als ich mich wieder neben ihn legte, doch er wachte nicht auf. Unversehens überfiel auch mich die Müdigkeit. Ich mußte mich zwingen, die Augen offenzuhalten.
Der Mond stand jetzt hinter dem mittleren Fenster. Nofrets Atemzüge gingen leichter, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Aus dem Wald kamen die rastlosen Rufe der Käuzchen...
Dann mußte ich doch eingeschlafen sein, denn plötzlich schreckte ich hoch und hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Verwirrt riß ich die Augen auf. Mikesch stand auf der Schwelle.
„Verdammt!“ sagte er leise und war mit ein paar Schritten bei uns. „Dacht ich’s mir doch. Sie war schon in den letzten Tagen so unruhig. Was ist passiert?“
Jörn bewegte sich im Schlaf. Ich rappelte mich auf und erwiderte: „Das Fohlen... Es ist verkehrt gelegen und bei der Geburt erstickt.“
Mikesch nickte wortlos. Er ging zu Nofret, kniete neben ihr nieder, hob ihr linkes Augenlid und sah ihr ins Auge. Dann streifte er die Decke zurück, legte die Hand auf ihre Flanke und zählte die Atemzüge.
„Hat sie Fieber?“ fragte er.
„Als Jörn sie gemessen hat, war die Temperatur nur leicht erhöht, aber... das ist schon eine Weile her“, gab ich beschämt zu. „Er ist eingeschlafen, und ich wollte ihn ein bißchen schlafen lassen. Ich hab ihr Fencheltee gegeben. Dann muß ich selbst eingedöst sein.“
Wieder nickte Mikesch nur. Ich stand auf, ging zum Fenster und brachte ihm das Thermometer. „Ihr habt geschlafen, und ich war fort“, murmelte er. „Wir brauchen uns gegenseitig keine Vorwürfe zu machen. Schließlich sind wir alle bloß Menschen. War sie schon die ganze Nacht so teilnahmslos?“
„Ja“, sagte ich.
Nach einer Weile meinte er: „Sie hat etwas Fieber, wenn es auch nicht beunruhigend hoch ist. Vielleicht geht es ihr gar nicht mal so sehr körperlich schlecht. Sie trauert wohl einfach um ihr Fohlen. Ich glaube aber, wir sollten ihr kühlende Umschläge machen. Das Gesäuge ist geschwollen. Jede Menge Milch für das Fohlen – und nichts davon wird gebraucht.“
Ich starrte Mikesch und Nofret an und hatte plötzlich einen Geistesblitz. „Jede Menge Milch...“, wiederholte ich. „Und Rapunzel hat zu wenig für ihr Fohlen! Könnten wir nicht versuchen...?“
Mikesch verstand sofort, was ich meinte, ich sah es ihm an. Wir wechselten einen Blick; dann sagte er: „Ja, versuchen könnten wir’s. Wahrscheinlich nimmt Nofret das fremde Fohlen nicht an, aber wer weiß... bei Tiermüttern erlebt man manchmal die erstaunlichsten Sachen. Am besten, wir probieren es gleich aus. Aber wir müssen Rapunzel mitnehmen, sonst macht sie Terror, wenn wir ihr Fohlen einfach so wegbringen.“
Wir hatten so laut gesprochen, daß Jörn aufgewacht war. Er setzte sich auf, sah uns verständnislos an und sagte dann: „Herrje, ich glaube, ich hab geschlafen!“
„Ja“, sagte ich. „Hast du. Du, wir haben eine Idee, wie wir Nofret vielleicht wieder auf die Beine bringen könnten.“
Jörn seufzte und fuhr sich mit den gespreizten Fingern durchs Haar. „Nicht so schnell... Mikesch, wo kommst du denn plötzlich her?“
„Aus der Stadt“, sagte Mikesch. „Geh jetzt ins Bett, Jörn. Nell und ich kommen schon allein zurecht. Du mußt ja in ein paar Stunden wieder ins Krankenhaus, zum Sonntagsdienst.“
Draußen dämmerte wirklich schon der Morgen. Zu dritt verließen wir den alten Schafstall. Der Innenhof war voll von grauen Schatten, und in der Luft lag eine Ahnung des kommenden Herbstes. Jörn verschwand im Wohnhaus, während Mikesch und ich in den Stall gingen.
Viele der Pferde waren bereits wach und sahen uns mit ihren glänzenden, freundlichen Augen entgegen. Hazel wieherte, und ich streichelte flüchtig, aber zärtlich ihre