Ich blinzelte erschrocken. Mikesch, der immer so geduldig und verständnisvoll war, sogar im schlimmsten Gewühl ein Fels in der Brandung! „Dann kam er wie ein wütender Stier aus dem Stall gestampft“, fuhr Matty fort, „und ist in der Fuhrknechtskammer verschwunden. Fünf Minuten später war er umgezogen und ist mit dem Lieferauto nach München losgedüst, ohne sich noch um irgend etwas zu kümmern.“
„Oh“, sagte ich. „Und was hat Anja gemacht?“
„Die war rot wie ein Feuermelder. Ich glaube, es hat sie ganz schön geschockt, daß ausgerechnet Mikesch sie so abgekanzelt hat, wo sie bei ihm doch immer so gern Eindruck machen möchte. Außerdem ist sie’s sowieso nicht gewöhnt, daß jemand Ihre Majestät schief anschaut.“ „Dann seid ihr jetzt also mit der ganzen Arbeit allein, du und Helge?“ fragte ich.
„Ja, und deshalb wollte ich dich holen, damit du uns hilfst. Ein paar von den Jungpferden müßten longiert werden, der Stall ist ein einziger Misthaufen, Nofret kann jeden Augenblick ihr Fohlen bekommen...“
„Hör auf“, sagte ich. „Wenn bloß Kirsty schon mit ihrer Marmelade fertig wäre! Aber warte, ich wickle Kathrinchen nur schnell und ziehe ihr was über. Dann nehme ich sie halt im Schultertuch mit.“
Ein paar Reitschüler lehnten noch am Koppelzaun und fütterten die Stuten mit Karotten, Äpfeln und Zwieback, als wir nach Dreililien kamen. Mikesch hatte ihnen nämlich ernsthaft verboten, auch nur ein einziges Stück Zucker zu verteilen.
„Es genügt, wenn wir Menschen uns mit den ewigen Süßigkeiten die Gesundheit verderben“, war seine Meinung. „Da braucht man die Tiere nicht auch noch mit diesem Schwachsinn krank zu machen.“ Und da alle großen Respekt vor Mikesch hatten, brachte jetzt keiner mehr Zucker oder Süßigkeiten mit.
Kathrinchen, die neugierig aus dem Schultertuch spähte, das ich umgebunden hatte, erregte allgemeines Entzükken. Die Reitschüler pfiffen, zischten und schnalzten mit der Zunge, als ginge es darum, die Aufmerksamkeit eines Affenbabys zu erregen, und Kathrinchen sah in die vielen grinsenden Gesichter und schien nicht recht zu wissen, ob sie lachen oder weinen sollte.
„Darf ich sie mal anfassen? Bitte, Nell, darf ich sie mal haben?“ schrie Martina.
„Lieber nicht“, sagte ich. „Sie ist so viele fremde Leute nicht gewöhnt, und wenn sie mal richtig zu brüllen anfängt, hört sie nicht so schnell wieder auf. Sie benimmt sich sowieso schon ziemlich verdächtig.“
Tatsächlich machte Kathrinchen den Mund auf und stieß ein Geräusch aus, das halb Krächzen, halb Quietschen war. Matty sagte hastig: „Am besten, du setzt sie mal auf Hazel, vielleicht lenkt sie das ab.“
Hazel graste auf der Südweide, und dorthin wanderten wir, gefolgt von drei Reitschülerinnen. Auf dem Weg zu den Koppeln raunzte Kathrinchen weiter vor sich hin wie ein wütender Kater. Als aber Hazel zum Gatter kam und mit ihrer braunen Nase erst mein Gesicht beschnupperte, dann freundschaftlich in mein Haar blies und ihre Nüstern schließlich vorsichtig zu dem kleinen Wesen im Schultertuch senkte, um es zu beriechen und ganz aus der Nähe zu betrachten, wurde Kathrinchen plötzlich sehr still. Sie kannte Pferde, aber es schien jedesmal wieder eine überwältigende und unerhörte Sache für sie zu sein, ein derart riesiges, behaartes Gesicht so dicht vor sich zu sehen; das Spiel der Nüstern und die großen, glänzenden Augen zu beobachten und den strengen Geruch einzuatmen.
Nach einer Weile des Erstaunens begann sie aufgeregt und erfreut zu gurgeln. Hazel prustete leise und hob dann wieder den Kopf. Nach diesem Vorspiel war es keine Schwierigkeit für Matty, das zappelnde Kathrinchen aus dem Schultertuch zu heben und auf Hazels Rücken zu setzen.
Meine gutmütige Hazel ließ es sich geduldig gefallen, daß jemand auf ihrem Rücken herumrutschte, sie an den Mähnenhaaren zerrte und durchdringend quietschte. Langsam wie ein Pony auf dem Jahrmarkt ging sie am Koppelzaun entlang, rechts und links begleitet von Matty und mir, denn wir mußten ja Kathrinchen festhalten. Die Reitschülerinnen jubelten und klatschten in die Hände wie bei einer Zirkusvorstellung.
Auch Kathrinchen fand unseren Einfall, sie aufs Pferd zu setzen, sehr gelungen. Sie protestierte entrüstet, als wir sie schließlich wieder herunterhoben.
„Schluß für heute“, sagte ich fest. „Ein andermal darfst du wieder reiten, aber jetzt muß ich arbeiten. Du kommst ins Schultertuch und darfst beim Longieren zusehen.“
Kathrinchen beruhigte sich erst, als ich mit Mandala, einer unserer wertvollsten Jungstuten, auf der Schwammerlwiese stand und sie an der Longe auf der linken Hand gehen ließ. Matty hatte mir geholfen, den Ausbindezügel anzuschnallen, denn dabei konnte man leicht etwas falsch machen. Mit beruhigender Stimme redete ich Mandala zu, wie ich es bei Jörn oft gehört hatte, da mir ihre Bewegungen immer noch zu hektisch vorkamen.
Aufmerksam folgten Kathrinchens Augen dem dunklen Pferd mit dem edlen Kopf, dessen Schweif und Mähne im Wind flatterten.
Meine Stimme war offenbar wirklich sehr beruhigend, denn meine kleine Schwester schlief nach etwa zehn Minuten ein. Nach weiteren zehn Minuten tauchte Helge auf, der seit einigen Monaten auf Dreililien eine Ausbildung als Pferdewirt machte.
Eine Weile sah er uns bei der Arbeit zu. Ich begriff nach einem flüchtigen Blick auf sein Gesicht, daß ihm wieder einmal eine Laus über die Leber gelaufen sein mußte; etwas, das bei Helge fast eine Art Dauerzustand war. Insgeheim nannte ich ihn „die Prinzessin auf der Erbse“, weil er unsagbar empfindlich war, zugleich aber nie auch nur die geringste Rücksicht auf die Gefühle anderer Leute nahm.
Jetzt merkte ich, wie seine Kinnmuskeln arbeiteten, und beschloß, vorsichtig zu sein. Nach längerem Schweigen fragte er: „Weißt du, wann Mikesch wieder zurückkommt?“
„Hat er mir nicht gesagt“, erwiderte ich. „Aber wie ich ihn kenne, ist er spätestens morgen zur Reitstunde wieder da.“
Helge knurrte etwas. Sein Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben, verschwand er in Richtung Stall. Meiner Meinung nach hätte gerade er, der so leicht explodierte, am besten verstehen müssen, weshalb Mikesch durchgedreht war; doch es war wohl gerade umgekehrt. Ich hatte immer vermutet, daß der verantwortungsbewußte, unerschütterliche Mikesch, der alles mit der linken Hand zu schaffen schien, für Helge so etwas wie ein Idol war. Daß dieses Idol nun plötzlich einen Wutausbruch bekam und einfach davonfuhr, ohne sich darum zu kümmern, was in seiner Abwesenheit passierte, schockierte ihn wohl. Und wenn man an Helges Vergangenheit dachte, die nur aus Unsicherheit, Hinundhergeschobenwerden und wechselnden Bezugspersonen bestand, konnte man das verstehen.
Als ich Mandala gerade am Ausbindezügel von der Schwammerlwiese führte, das fest schlafende Kathrinchen im Schultertuch, erschien Kirsty. Sie hatte sich umgezogen, roch aber noch immer verlockend nach Marmelade.
„He, paß auf!“ sagte ich. „Du wirst von zwei Wespen verfolgt!“
Sie lachte. „Die fliegen mir schon seit dem Kavaliershäusl nach. Aber sie sind ganz friedlich. Wenn man sie in Ruhe läßt, tun sie einem nichts. Ich wollte dich von Kathrinchen befreien. War sie sehr lästig?“
„Überhaupt nicht. Sie schläft schon seit einer halben Stunde. Vorher ist sie auf Hazel geritten. Aber man kann sie jetzt nicht mehr lange tragen. Sie wird schon verdammt schwer.“
„Kommst du nachher zum Kaffee?“ fragte Kirsty.
Ich