Reiterhof Dreililien 5 - Alte Lieder singt der Wind. Ursula Isbel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ursula Isbel
Издательство: Bookwire
Серия: Reiterhof Dreililien
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788726219623
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wohl mal ein bißchen Abstand.“ Im Weggehen sagte Kirsty: „Ich bringe euch dann etwas vom Zwetschgendatschi herüber. Übrigens – ich dachte, du hättest heute einen Faulenzernachmittag eingeplant?“ „Eingeplant schon“, erwiderte ich und schob Mandala zur Seite, die unbedingt meine Jacke anknabbern wollte. „Aber es ist mal wieder anders gekommen. Nur... heute abend fahre ich nach Rosenheim und gehe mit Jörn ins Kino, selbst wenn hier alles zusammenkracht. Ich schwör’s!“

      2

      Ich hatte zu früh geschworen. Am Spätnachmittag mußte Dr. Hofbauer geholt werden, um nach Nofret zu sehen. Er stellte fest, daß das Fohlen verkehrt lag. Das bedeutete, daß er einen Eingriff vornehmen mußte, und zwar schnell. Matty sollte ihm dabei zur Hand gehen, weil Herr Moberg seit zwei Tagen wegen einer Narbenentzündung am Bein im Bett lag.

      Helge wäre also mit Abendfütterung und Stallarbeit allein gewesen, denn Sepp, unser Teilzeit-Stallknecht, war zu einer Familienfeier nach Salzburg gefahren. Obwohl keiner ein Wort zu mir sagte, wußte ich genau, daß nur ich einspringen konnte. Doch wenn ich das tat, erreichte ich den Bus nach Rosenheim nicht mehr rechtzeitig.

      Ich rief auf dem Bergerhof an, um Carmen zu bitten, nach Dreililien zu kommen und Helge zu helfen, doch sie war nicht da. Es war wie verhext. Als ich das Wohnhaus verließ und über den Innenhof ging, hörte ich Nofrets angstvolles, gepeinigtes Wiehern und wäre am liebsten davongelaufen.

      Solche Augenblicke waren selten, denn ich liebte Dreililien und die Pferde und hätte mein Leben hier nicht gegen das verlockendste Luxusdasein eingetauscht. Es war auch schön, gebraucht zu werden – nur an diesem Samstag wäre es mir ausnahmsweise einmal lieber gewesen, keiner hätte mich gebraucht.

      Rasch ging ich nach Hause, um meine Stallkleidung anzuziehen. Danach rief ich Jörn im Krankenhaus an.

      Es dauerte einige Zeit, bis er an den Apparat geholt wurde. Seine Stimme klang müde und bedrückt, als er sich meldete.

      „Oh, verdammt!“ murmelte er nur, als ich ihm erklärte, was passiert war. „Geht’s Nofret schlecht? Was hat Dr. Hofbauer gesagt?“

      „Nicht viel. Er hat nur gemeint, es wäre besser gewesen, wenn wir ihn früher gerufen hätten.“

      Jörn schwieg eine Weile. „Ich komme nach Hause, sobald ich hier fertig bin“, sagte er dann.

      Ich konnte noch nicht einhängen. „Jörn“, sagte ich, „was ist los? Hast du Ärger gehabt?“

      „Ärger? Nein. Aber hier sind heute nachmittag zwei Leute eingeliefert worden... Motorradunfall. Das kannst du dir gar nicht vorstellen, Nell. Wenn man so was sieht, vergeht einem die Lust, sich irgendwann im Leben auf so eine Kiste zu setzen. Und falls es den Ärzten gelingt, aus diesen beiden armen Teufeln jemals wieder so etwas wie Menschen zu machen, dann ist das wirklich mehr als ein Wunder.“

      Betroffen legte ich den Hörer auf. Das Gefühl, um einen schönen Abend betrogen worden zu sein, war verflogen. Ich fragte mich plötzlich nicht mehr nur, wie ich Jörns lange Abwesenheiten ertragen sollte, sondern überlegte, wie er die langen Tage und Nächte im Krankenhaus ertragen würde, und wie er es schaffen sollte, mit der Erfahrung von Leid, Hilflosigkeit und Tod fertigzuwerden. Ich hatte diese Erfahrung schon gemacht – in den langen und quälenden Monaten der Krankheit meiner Mutter; und ich hatte davon eine Furcht vor Krankenhäusern zurückbehalten, die sehr tief saß. Jetzt sollte Jörn all das erleben, wieder und wieder, wenn auch nicht bei Menschen, die er liebte. Das machte es vielleicht erträglicher. Aber es blieb noch immer schlimm genug.

      Ich ging nicht in den ehemaligen Schafstall, wohin wir Nofret zum Abfohlen gebracht hatten. Irgendwie konnte ich an diesem Abend einfach nicht sehen, was mit ihr geschah.

      Helge hatte schon angefangen, die Pferde zu füttern. Er hob den Kopf nicht, als ich in den Stall kam. Da mir ebenfalls nicht nach langen Gesprächen zumute war, übernahm ich schweigend meinen Teil der Arbeit und sagte nur manchmal leise ein zärtliches Wort zu einer der Stuten, wie sie es gewohnt waren.

      Als Jörn gegen acht Uhr nach Hause kam, machte sich Dr. Hofbauer gerade auf den Heimweg. Der Eingriff war zu spät gekommen. Nofrets Fohlen hatte die Geburt nicht überlebt.

      „Und Nofret?“ sagte Jörn. Er sah müde aus. Sie sahen beide müde aus, er und der Tierarzt.

      „Sie ist ziemlich schwach. Ihr müßt sie heute nacht im Auge behalten. Wenn sie Fieber bekommt, ruft mich sofort an. Sorgt dafür, daß sie liegenbleibt. Matty weiß Bescheid, was sonst noch zu tun ist. Das Fohlen müßt ihr gleich morgen in die Tierkörperverwertungsanstalt bringen.“

      Ich schluckte. Solange ich hier lebte, waren auf Dreililien immer gesunde Fohlen zur Welt gekommen. Nun lag irgendwo auf dem Hof ein totes kleines Pferd, das „beseitigt“ werden mußte.

      Mit Jörn zusammen ging ich in den alten Schafstall. Es war, als hätte ich mehr Mut, wenn er bei mir war.

      Die Stute lag auf frischer, sauberer Streu. Ihre Flanke bewegte sich matt unter den Atemzügen, die Augen waren halb geschlossen und öffneten sich auch nicht, als wir näher traten. Ihr Fell wirkte ungewohnt struppig.

      Matty saß auf einem umgestülpten Eimer in der Nähe von Nofrets Kopf. Er sagte gar nichts, nickte uns nur zu, und Jörn fragte leise: „War’s schlimm?“

      „Scheußlich“, sagte Matty mit belegter Stimme.

      „Wohin habt ihr es gebracht?“

      Matty deutete mit dem Daumen nach hinten, wo eine Verbindungstür zur Gerätekammer führte.

      Ich sagte: „Geh jetzt ins Haus und ruh dich aus, Matty. Ich paß schon auf Nofret auf. Du brauchst mir nur zu sagen, was ich tun soll und worauf ich achten muß.“

      Einen Augenblick lang musterte er mich schweigend. Es war, als überlegte er, ob er mir diese schwierige Aufgabe anvertrauen konnte. Da mischte sich Jörn ein. „Wir bleiben zusammen hier, Nell und ich“, sagte er. „Ich gehe nur rasch in die Küche und mach mir ein Brot zurecht. In fünf Minuten bin ich wieder zurück.“

      Leise und vorsichtig ließ ich mich im Stroh nieder. Wenn Jörn zurückkam, wollte ich noch kurz nach Hause laufen und Vater und Kirsty Bescheid sagen, daß ich Nachtwache halten würde. Im Hinausgehen hörte ich Matty zu Jörn sagen: „Ihr müßt aufpassen, daß sie liegenbleibt. Das Fieberthermometer hab ich in ein Glas getan und aufs Fensterbrett gestellt...“

      Ich sah Nofret an. Sie atmete kurz und flach. Jetzt hatte sie die Augen geöffnet; sie waren matt und glanzlos. Die Stute wirkte unendlich erschöpft. Ich dachte, daß sie vielleicht auch traurig war, denn sie hatte ja gefühlt, daß sie ein Fohlen bekam. Nun war alle Quälerei umsonst gewesen.

      Gern hätte ich sie gestreichelt, doch ich wußte, es war besser, sie in Ruhe zu lassen. Eine Fliege summte hartnäkkig um ihren Schweif, doch Nofret tat nichts, um sie abzuwehren.

      Später kauerten wir zusammen in der Streu, Jörn und ich. Im Flüsterton erzählte er vom Krankenhaus – wie er Patienten in ihren Betten durch die Gänge schob, zu langen Untersuchungen, und wie froh sie oft über ein freundliches Wort, eine menschliche Geste waren.

      „Die, die schwer krank sind und wissen, daß sie sterben müssen – ich habe keine Ahnung, wie sie damit fertig werden“, sagte er leise. „Ich glaube, man hilft ihnen am meisten, wenn man sich mal für eine Weile an ihr Bett setzt und einfach ihre Hand hält. Du weißt doch, daß es in Amerika Experimente mit Sterbekliniken gibt, in denen man es sich zur Aufgabe macht, Todkranke in einer guten Atmosphäre, in Würde und Menschlichkeit sterben zu lassen. Wo Pflegepersonal da ist, das Zeit für sie hat, wo man liebevoll und aufrichtig zu ihnen ist und ihnen die Chance gibt, sich auf ihr Ende vorzubereiten, statt ihnen irgendwelche ,gnädigenʻ Lügen aufzutischen, die sie sowieso nicht glauben. Aber soweit sind wir hier in Deutschland noch lange nicht. Die Sterbenden werden oft in ein Kämmerchen abgeschoben und allein gelassen. Dabei brauchen sie gerade in den letzten Tagen und Stunden ihres Lebens besonders viel Wärme und Anteilnahme.“

      Gedankenverloren streichelte er meinen Handrücken. „In technischer Hinsicht hat unsere