John Turners Mundwinkel zucken in stillem Schmerz. „Es mag wohl sein, Major. Aber ich weiss von alledem nichts. Ich habe nichts verraten.“
„Überlegen Sie es sich wohl, Turner. Es ist Ihre letzte Chance in diesem Leben. Ihr Schicksal ist besiegelt. Der Exekutionstrupp für morgen ist kommandiert. Der Mann, dem Sie Ihr Wissen verkauft haben, kann nichts mehr für Sie tun, kann Ihnen weder schaden noch nützen. Aber i ch kann’s! Wenn Sie uns die Wahrheit gestehen, wenn es gelingt, durch Sie auf die Spur des unbekannten Gegners zu kommen, dann . . . Ich gebe Ihnen mein Wort, dann werden Sie nich t erschossen! Schriftlich gebe ich es Ihnen, wenn Sie wollen! Es ist sogar möglich, dass Sie England dann einen Dienst erweisen, der vieles wett machen kann, und dass Ihre Bestrafung gelinder ausfallen wird, als Sie denken. Also — wer ist’s?“
John Turners Kiefer mahlen. Gedanken kommen und gehen in seinem Kopf. Soll er dem Major jetzt ein Märchen auftischen? Irgend etwas erfinden, eine Geschichte von einem geheimnisvollen Unbekannten, dessen Namen er nicht kennt? Oder einen ausgedachten Namen nennen? Es nützt wohl nicht viel, denn dies alte, menschenkundige Gesicht da lässt sich nicht lange an der Nase herumführen. In ein paar Tagen wird Major Bond festgestellt haben, dass er ihn belogen hat. Aber immerhin . . . ein Aufschub, eine Gnadenfrist! Wenn auch nur ein paar Tage! Herrgott, man ist erst einundzwanzig Jahre! Das Leben ist so schön! Und morgen . . .
„Vielleicht ist es auch anders gewesen“, sagt Mr. Bond überlegend. „Vielleicht haben Sie gar kein Geld gewollt. Nur unvorsichtigerweise im Gespräch mit irgend jemand etwas erwähnt, ein bisschen mit Ihren Kenntnissen geprahlt . . . ohne Arg . . .“
John Turner stutzt. Die Worte des Majors lassen plötzlich eine Erinnerung in ihm emporsteigen. Eine Erinnerung an einen schönen Frühlingsmorgen. Wie war das doch gewesen? Er hatte dienstfrei und war mit Lis van Dersen auf dem Tennisplatz. Mit der schlanken Lis van Dersen, der Sekretärin der Planters und Settlers Bank! Und nachher . . . im Clubhaus draussen, hatten sie da nicht zusammen über die — Wellenlänge gesprochen? Ja, richtig, so war es gewesen? Lis van Dersen hatte ihm erzählt, dass sie sich einen kleinen Sender zulegen wollte. Nur so zum Privatgebrauch. Einen Sender mit der Wellenlänge 2010. Und da hatte er lachend geantwortet, sie möge sich denn doch lieber eine andere Länge aussuchen, denn 2010 sei ausgerechnet seine eigene.
Ja, ja, so war es gewesen. Lis van Dersen hatte er damals diese Wellenlänge gesagt, ohne sich irgend etwas dabei zu denken. Aber — konnte denn das . . .? Nein! Das war ausgeschlossen! Lis van Dersen, das schlanke, blonde Mädel mit den ernsten grauen Augen und dem lieben, reinen Gesichtchen war keine Spionin! Lächerlich, so etwas auch nur zu denken! Lis van Dersen lebte schon jahrelang in Singapore, war die vertraute Sekretärin des reichen Mr. Tsugeno. Man munkelte sogar davon, dass er sie an Kindesstatt angenommen habe. Und Mr. Tsugeno selbst war sogar in Singapore geboren, war einer der reichsten und bekanntesten Persönlichkeiten der Stadt. Der hatte es wahrhaftig nicht nötig, sich mit Spionage abzugeben.
Mr. Bond hat das Stutzen und Überlegen in Turners Gesicht wohl bemerkt und wartet gespannt. Aber das Warten ist vergeblich. John Turner hat den auftauchenden Gedanken bereits als vollkommen lächerlich abgetan und sein Gesicht sieht wieder unbewegt und ruhig aus.
„Heraus mit der Sprache, Turner“, mahnt Major Bond. „Also wer ist der verdammte Schurke, dem Sie die Wellenlänge verraten haben?“
Das Schimpfwort lässt jene kleine Episode endgültig in John Turners Unterbewusstsein wieder hinabtauchen. Es passt so gar nicht auf Lis van Dersen, das liebe Mädel.
„Niemand, Major“, sagt er ruhig. „Ich habe niemand etwas verraten.“
Eine Minute noch sieht Major Bond den jungen Soldaten scharf an. Dann erhebt er sich. „Sie haben noch eine ganze Nacht vor sich, Turner“, sagt er sehr ernst. „Wenn Sie anderen Sinnes werden und mir eine Meldung machen wollen, so rufen Sie den Wachhabenden. Ich werde für Sie zu sprechen sein. Auch in der Nacht. Aber wenn Sie in Ihrem Schweigen beharren, dann . . . kann ich Ihnen nicht helfen. Dann wird das Urteil vollstreckt.“
Mr. Bond ist nicht in rosiger Laune, als er sein Büro wieder betritt. Seine Stimme klingt knarrender und barscher denn je, als er Jackson beauftragt, Mr. Deep und den zweiten Clerk, Mr. Harryman, zu rufen. Jackson will, als alle versammelt sind, noch schnell seinem Chef einige inzwischen eingegangene Nachrichten vorlesen, aber Mr. Bond schiebt alles mit einer ärgerlichen Handbewegung zur Seite.
„Zuerst das Wichtigste. Sie, Jackson, fragten mich heute morgen, welche Bewandtnis es mit der „Sakura“ habe. Der Fall liegt klar. Ein japanischer Zerstörer ist nachweislich gesunken. Tokio erklärt, es sei die „Sakura“, ein altes Boot der japanischen Marine. Wir haben festgestellt, dass die „Sakura“ wohlbehalten im Hafen von Nagasaki liegt. Auch alle anderen Zerstörer der japanischen Flotte sind vorhanden. Folglich kann es sich bei dem gesunkenen Schiff nur um ein ganz neues, bisher unbekanntes Boot handeln, das vielleicht mit den neuen Torpedorohren ausgestattet ist, die in den Werkstätten von Kure hergestellt werden, und über die wir noch wenig wissen. Well, es ist von Wichtigkeit, darüber Näheres zu erfahren. Lassen Sie die genaue Position des gesunkenen Schiffes feststellen, Jackson, Fadentiefe und Bergungsmöglichkeiten.“
„Ich war noch einmal bei Turner“, fährt Mr. Bond fort. „Er schweigt. Und ich fürchte, er wird schweigen, bis ihn die Kugel für ewig stumm macht. Ein Zeichen mehr, welch verdammte Macht unser Gegenspieler hier über seine Kreaturen ausüben muss. Reden Sie nicht, Jackson! Ich seh es Ihnen an, Sie wollen mir wieder damit kommen, dass der Mann gar nicht existiert! Sie waren zu lange bei der Kriminalpolizei und haben daher eine Abneigung gegen den „grossen Unbekannten“. Aber ich sage Ihnen, er muss existieren! Seit zwei Jahren werden hier von Singapore aus Dinge verraten, die nur ein ganz Durchtriebener herausfinden kann. Wir müssen den Mann finden, Gentlemen! Das geht nicht so weiter, dass wir hier wie die Blinden herumtappen und höchstens einen armen Teufel wie diesen Turner festnageln können!“
Die Mitarbeiter Mr. Bonds machten bedrückte Gesichter. Die Stimmung des Chefs ist nur zu verständlich, aber wie soll man hinter das Geheimnis kommen? Fast zwei Jahre lang hat man schon jedes Mittel versucht, ohne auch nur den Schatten eines Verdachts, geschweige denn den „grossen Unbekannten“ selbst zu finden.
Mr. Bond sieht die Niedergeschlagenheit in den Augen seiner Leute und beeilt sich, sie aufzumuntern.
„Zum Glück bekommen wir Hilfe“, fährt er etwas weniger bärbeissig fort. „Das Hauptquartier hat seinen besten Mann hergeschickt. Captain Glany ist unterwegs.“
Mr. Jackson sieht überrascht auf. „Captain Glany? Der den geheimen Flughafen auf Kusai fand?“
„Der beste Mann im I. C. Departement“, nickt Mr. Bond. „Der Mann, der vor ein paar Jahren in London den Russen Krunzin entlarvte und seine ganze Organisation auffliegen liess. Der es fertig brachte, als „Spezialarbeiter“ sier Monate auf der Staatswerft Yokosuka zu arbeiten. Ich freue mich, ihn wiederzusehen.“
Der Gedanke an den angekündigten Mitarbeiter lässt Mr. Bond Ärger und Sorgen einen Augenblick verminden. Fast freundlich nickt er seinen Leuten zu. „Sonst wäre für den Augenblick nichts, Gentlemen. Oder haben Sie etwas Wichtiges, Jackson?“
„Nein, Sir. Höchstens, dass wir bereits einige Informationen über diesen Mr. Dirk inzwischen erhalten haben. Seine Personalien stimmen. Er ist gestern hier in Singapore angekommen und hat im Hotel Seymour Wohnung genommen. Verdächtige Bekanntschaften sind bisher nicht zu ermitteln gewesen. Mac Ligh hat ihn unter Beobachtung.“
„Gut so. Und . . .?“
„Nichts Interessantes, Sir. Mr. Dirks ist von hier aus, wie Sie ihm