Dieter Fuchs blieb im Flur zurück, die Hände vor Zorn geballt. Der neue Chef würde niemals sein Freund werden, das hatte er von Anfang an gewusst. Doch es nützte alles nichts. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass er Dr. Norden nicht so leicht los wurde. Er musste sich gut mit ihm stellen, wenn er seine Ziele durchsetzen wollte.
*
Am nächsten Tag war Oskar schon früh auf den Beinen. Lenni schlief noch tief und fest, sodass er beschloss, den Kiosk allein aufzuschließen. Wie jeden Morgen gab es viel zu tun. Die alten Zeitungen und Zeitschriften mussten durch die neue Lieferung ersetzt und für die Rücklieferung verpackt werden. Der Getränkekühlschrank musste aufgefüllt und die Vitrine mit Tatjanas noch warmen Backwerken bestückt werden. Und nicht zuletzt musste die Kundschaft versorgt werden, die nicht lange auf sich warten ließ. Oskar stellte benutztes Geschirr an einem der Tische vor dem Kiosk auf ein Tablett, als seine Liebste endlich auftauchte.
»Da bist du ja endlich!« Er hob das Tablett und machte Anstalten, in den Kiosk zu verschwinden.
»Lass das Tablett Tablett sein«, verlangte Lenni und hielt ihn kurzerhand am Ärmel fest. »Ich habe eine Überraschung für dich.«
»Wie bitte?« So etwas passte nicht zu der Lenni, die Oskar kannte.
»Du hast schon richtig gehört. Und jetzt setz dich hin!«
»Aber die Kunden …« Oskar deutete auf den Herrn, der sich im Kiosk umsah.
»Im Gegensatz zu mir braucht der dich noch nicht. Es dauert nicht lange.« Ungeduldig drückte Lenni ihren Lebensgefährten auf den Stuhl und setzte sich ihm gegenüber. Sie machte eine geheimnisvolle Miene. »Ich sage nur ›Bayerischer Hof‹.«
»Du warst Kaffeetrinken im ›Bayerischen Hof‹, während ich hier nicht weiß, wo mir der Kopf steht?« Oskar schnappte nach Luft. »Das kann doch wohl nicht wahr …«
»Halt mal die Luft an!« Sie zog zwei Tickets aus der Tasche und legt sie zwischen sich und Oskar auf den Tisch. Dazu lächelte sie triumphierend. »Na, was sagst du jetzt?«
Oskar griff nach den Karten.
»Tanz in den Mai mit den Singing Swings, Hotel Bayerischer Hof«, las er laut vor.
»Und? Wie findest du das?«
»An diesem Tag war irgendwas.« Oskar stand auf und holte den Terminkalender. Auf dem Rückweg an den Tisch blätterte er darin. »Hier steht es. Da feiert Dr. Berninger seinen Abschied, und Daniel Norden hat uns gebeten, die Gäste zu versorgen.« Er hielt Lenni den aufgeschlagenen Kalender unter die Nase.
Mit einer energischen Handbewegung wischte sie die Bedenken weg.
»Dann muss das eben Tatjana machen.«
»Tatjana hat selbst immer so viel zu tun mit der Bäckerei. Das weißt du doch.«
Lenni saß ihrem Liebsten gegenüber und musterte ihn aus schmalen Augen.
»Du gehst doch gern zum Tanzen, oder? Warum sonst würdest du mich ständig zu diesen Tanztees schleppen?«
»Natürlich! Ich liebe Tanzen.«
»Also gehen wir in den ›Bayerischen Hof‹. Keine Widerrede.«
»Aber …«, wollte Oskar aufbegehren.
In diesem Moment wurde es Lenni endgültig zu bunt.
»Da will ich dir ein Mal eine Freude machen, und dann das!«, rief sie so energisch, dass sich die Gäste nach ihr umdrehten. Doch das störte Lenni herzlich wenig. »Denkst du denn, wir hätten ewig Zeit? Irgendwann sind wir tot. Das war’s dann mit Unternehmungen. Dann sitzen wir im Himmel herum und fragen uns, was wir mit unserem kostbaren Leben angestellt haben. Wir müssen die Zeit nutzen, solange wir noch gesund und munter sind. Irgendwann ist es zu spät.« Feine Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn. Ihr Atem ging schnell.
Aus den Reihen ihrer Zuhörer erklang vereinzelt wohlwollende Zustimmung, ein Gast applaudierte.
Obwohl ein Meister des Verdrängens, bekam Oskar es doch wieder mit der Angst zu tun. Wieder dachte er an die Untersuchung vom vergangenen Tag; an die Lüge, die Lenni ihm aufgetischt hatte. Steckte wirklich etwas Ernstes dahinter?
»Was ist los mit dir?«, fragte er. »Du bist so komisch seit gestern.«
»Komisch bist du«, schleuderte Lenni ihm entgegen und marschierte Richtung Kiosk davon.
*
Dr. Sandra Neubeck nahm ihr Versprechen vom vergangenen Abend sehr ernst. Sie hatte die Klinik kaum betreten, als sie sich auch schon auf den Weg in die Gynäkologie machte. Theo Gröding kam ihr entgegen. Er wirkte müde und abgespannt.
»Je früher der Tag, umso schöner die Gäste«, begrüßte er Sandra und rang sich ein Lächeln ab. »Im Gegensatz zu mir scheinst du eine ordentliche Portion Schlaf abbekommen zu haben. Du strahlst wie die Sonne persönlich.«
»Was ist passiert?« Seite an Seite setzten sie ihren Weg fort.
»Frau Grüns Zustand hat sich verschlechtert. Heute Nacht hatte sie eine Blutung. Zum Glück ist es uns gelungen, sie zu stoppen.«
»Weiß sie vom Zustand Ihres Mannes?«, erkundigte sich Sandra.
»Natürlich fragt sie, warum er sie nicht besucht. Wir halten uns so bedeckt wie möglich. Aber Frau Grün ist ja nicht dumm.«
»Und wie geht es ihr jetzt?«
Die Antwort fiel Theo sichtlich schwer.
»Sollte sich Frau Grüns Zustand nicht in den nächsten Tagen stabilisieren, müssen wir das Kind holen.«
Wie angewurzelt blieb Sandra stehen. Dr. Gröding bemerkte es und drehte sich zu um.
»Aber sie ist erst im sechsten Monat. Das Risiko für das Kind wäre dabei sehr groß.« Ihre Stimme hallte über den Flur. Theo legte den Finger auf die Lippen. Leiser fuhr Sandra fort. »Fee Norden hat mir erzählt, wie sehr sich das Ehepaar Grün auf dieses Kind freut. Es war nicht leicht für Melanie, überhaupt schwanger zu werden.«
Theo verzog das Gesicht.
»Ich weiß.« Er seufzte. »Aber du weißt ja, wie das ist. Das Leben der Mutter steht über dem des Kindes.«
Das war beileibe nicht das, was Sandra Neubeck zu hören gehofft hatte.
»Danke«, murmelte sie betreten.
Auf dem Weg zu Laurenz Grün dachte sie angestrengt nach, ohne wirklich eine Lösung zu finden.
»Mein Name ist Dr. Sandra Neubeck«, begrüßte sie den Patienten wenig später.
Laurenz lag mit geöffneten Augen im Bett und starrte blicklos an die Wand gegenüber. Als die Ärztin zu ihm trat, drehte er langsam den Kopf.
»Wenn Sie gute Nachrichten bringen, können Sie bleiben.« Seine Stimme war schleppend. »Ansonsten will ich niemanden sehen.«
Sandra hatte beschlossen, sich ganz auf ihre Intuition zu verlassen. Sie nahm allen Mut zusammen und lächelte auf Laurenz hinab.
»Ihre Frau wird gerade untersucht. Das Baby ist noch da, wo es hingehört. So viel ich weiß, geht es beiden gut.« Das war zumindest keine ganze Lüge. »Und Sie? Wie fühlen Sie sich?«
»Meine Beine sind immer noch taub.« Er schlug mit der Faust auf die Matratze. »Ein einziger, dummer Augenblick, und mein Leben, unser aller Leben ist zerstört. Und schuld daran ist nur Felicitas Norden.«
Sandra zuckte erschrocken zusammen. Zum Glück hatte sie sich schnell wieder im Griff. Sie setzte sich auf die Bettkante und zögerte kurz, ehe sie Laurenz’ Hand zwischen die ihren nahm.
»Ich