Matthias fühlte, wie ihm die Knie weich wurden. Er war froh, dass er saß.
In die peinliche Stille hinein räusperte sich Danny.
»Ich will ja nicht stören«, bemerkte er mit glucksender Stimme. »Aber ich muss in einer halben Stunde in der Praxis sein.«
»Ach so, ja, natürlich.« Peinlich berührt sprang von der Bettkante auf. Er hatte seinen Freund und Kollegen völlig vergessen. »Frau Staller, ich würde gern die Funktionsfähigkeit Ihres Beines überprüfen. Bitte schlagen Sie die Bettdecke zurück.«
Sarina hing an seinen Lippen. Sie wäre auch aus dem Fenster gesprungen, wenn er sie darum gebeten hätte.
»Und jetzt?«, fragte sie, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
»Versuchen Sie doch bitte, das Bein zu heben.«
Matthias Weigand konzentrierte sich. »Jetzt bewegen Sie die Zehen.« Er nickte. »Ganz gut für den Anfang. Und jetzt ziehen Sie den Fuß an … Gut … Haben Sie wieder Gefühl?«, wandte er sich ihr wieder zu.
Sie lächelte ihn an wie ein Engel.
»Es kribbelt.« Demonstrativ legte sie die Hand auf den Bauch.
Matthias wurde knallrot im Gesicht, während Danny vor unterdrücktem Lachen um ein Haar geplatzt wäre.
»Ja, nun, die Operation ist gut verlaufen.« Es kostete Dr. Weigand alle Mühe, sich wieder auf die medizinischen Fakten zu konzentrieren. »Wenn alles glattgeht, können Sie die Klinik in ein paar Tagen verlassen. Für die Nachsorge müssen Sie übrigens nicht extra hierher kommen. Die kann auch Dr. Danny Norden in seiner Praxis durchführen. Er ist ein hervorragender Arzt.«
Sarina Staller sah hinüber zu Danny.
»Daran habe ich gar keinen Zweifel.« Auch ihm schenkte sie ein Lächeln, gegen das er aber dank Tatjana immun war. »Hoffentlich sind Sie mir nicht böse, wenn ich trotzdem lieber in die Klinik gehe.«
»Natürlich nicht«, versicherte Danny, ehe er sich von ihr verabschiedete.
Es wurde wirklich höchste Zeit, in die Praxis zu fahren.
Matthias begleitete ihn hinaus.
»Du bist mein Zeuge. Ich wollte dir die Patientin nicht ausspannen.«
»Armer Matthias. Den Frauen hilflos ausgeliefert«, spottete Danny gutmütig. »Bist du mir böse, wenn sich mein Mitgefühl in Grenzen hält?«
Matthias Weigand lachte.
»Ich wäre dir böse, wenn du mir eine Versöhnung verweigert hättest«, erwiderte er innig und klopfte Danny auf die Schulter.
Dann wurde es auch für ihn Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Ein neuer, aufregender Tag wartete auf die beiden Ärzte.
Gestärkt durch die überstandene Krise und ihre neu besiegelte Freundschaft waren sie bestens gewappnet.
»Hast du das gehört?« Aufgeregt packte Tatjana Bohde ihren Freund Danny Norden am Ärmel. Sie presste den Zeigefinger auf die Lippen und lauschte angestrengt.
»Du meinst den Vogel?«, fragte er unschuldig. »Oder die Kinder?« Ausgelassene Stimmen klangen durch das Grün gedämpft zu ihnen. Doch das meinte Tatjana nicht.
Sie verdrehte die Augen.
»Da war eine Mönchsgrasmücke, du Banause.«
»Seit wann können Mücken singen?«, fragte Danny verständnislos.
»Bei dir ist wirklich Hopfen und Malz verloren.« Tatjana schüttelte den Kopf, während sie ihren Weg durch den Wald fortsetzte.
Zweige knackten unter ihren Füßen, das Laub vom Vorjahr raschelte bei jedem Schritt. Der Frühling hatte unweigerlich Einzug gehalten. Überall spross frisches Grün.
Wegen ihrer Sehbehinderung nahm Tatjana aber mehr den herb-frischen Duft nach Holz und frischen Blättern, vermischt mit Moos und Erde, wahr, der die Luft erfüllte. Und eben die Lieder der Vögel, die sich in schwindelerregenden Höhen des Lebens freuten.
Danny folgte seiner Freundin, die behände über einen umgefallenen Baumstamm sprang. Trotz ihres eingeschränkten Sehvermögens lief, hüpfte und tänzelte sie mit schlafwandlerischer Sicherheit über den unebenen Waldboden.
»Seit wann bist du unter die Ornithologen gegangen?«, fragte er atemlos. Er hätte es nie zugegeben, aber manchmal hatte er sogar Mühe, ihr zu folgen.
»Gar nicht. Aber mir gefällt dieser verrückte Gesang der Mönchsgrasmücke«, erzählte sie. »Wusstest du, dass diese Vögel in der Lage sind, andere Vogelstimmen nachzuahmen?«
»Ich wusste bis gerade eben noch nicht einmal, dass es überhaupt einen Vogel namens Mönchsgrasmücke gibt«, gestand Danny.
Er hatte Tatjana erreicht, nahm ihre Hand und zog sie zu sich, um sie zu küssen. Statt ihren Mund traf er ihre erhitzte Wange. Sie lachte ausgelassen. Im nächsten Moment fühlte er ihre Lippen auf den seinen. Es hätte ein romantischer Kuss auf der lichtdurchfluteten Lichtung werden können. Doch die Kinderstimmen kamen näher. Das Kreischen und Schreien ließ den Traum aber zerplatzen.
»Und was ist das für ein Vogel?«, fragte Danny belustigt.
Tatjana zog eine Augenbraue hoch.
»Ich weiß ja, dass es einen bücherschreibenden Förster gibt, der für Lärm im Wald plädiert. Trotzdem verstehe ich nicht, warum Kinder immer schreien müssen. Sind ihre Ohren noch nicht vollständig entwickelt? Oder das Akustikzentrum im Gehirn?«, stellte sie eine nicht ganz ernst gemeinte Frage.
Danny schmunzelte über diese Idee.
»Das wäre ein gutes Thema für eine Doktorarbeit.« Die Stimmen kamen näher. »Allerdings müssten wir beide das doch am besten wissen. Es ist noch gar nicht so lange her, dass wir selbst durch Wälder gestreift sind und Baumhäuser gebaut haben.«
»Tu doch nicht so, als könntest du dich daran noch erinnern, alter Mann!«, witzelte Tatjana und wappnete sich gegen seine Rache, als ein gellender Schrei die Luft zerriss.
Abrupt hielten beide inne.
»Das ist kein Spaß mehr«, prophezeite Danny und lauschte angestrengt in die folgende Stille. Er hatte keine Ahnung, aus welcher Richtung der Schrei gekommen war.
Zum Glück blieb es nicht lange ruhig. Nur wenige Augenblicke später redeten aufgeregte Stimmen durcheinander.
»Hier lang!«, rief Tatjana und deutete nach rechts. Ihre geschärften Sinne wiesen ihr den Weg, und in Windeseile machten sich die beiden auf den Weg.
*
»Ich glaube, ich wurde als Kind von einem Alien entführt. Immer, wenn ich etwas Grünes sehe, bekomme ich eine Gänsehaut«, las der Notarzt Dr. Matthias Weigand leise vor. Er saß an diesem Sonntagnachmittag in der Notaufnahme. Im Augenblick war nichts los, und so nutzte er die günstige Gelegenheit, um in dem Buch weiterzulesen, das ihm ein Kollege ans Herz gelegt hatte.
Schwester Elena gesellte sich mit einem Kaffee zu ihm. Sie legte den Kopf schief und lächelte spöttisch.
»Bisher hatte ich dich eigentlich für ganz normal gehalten.«
Matthias’ Augen klebten an dem Text.
»Bin ich ja auch. Das hier sind Tipps eines Pickup-Artists, wie man garantiert jede Frau rumkriegt.«
»Eines was?« Elena, seit einer halben Ewigkeit glücklich verheiratet und Mutter zweier Kinder, verstand kein Wort.
Endlich ließ Matthias das Buch sinken.
»Pickup-Artist«,