»Warum hast du ihn nicht aufgehalten? Du weißt doch genau, dass der Flug heute Nachmittag geht. Ich habe extra umgebucht, damit ich gemeinsam mit Joshua fliegen kann.«
»Nur zur Erinnerung: Dein Sohn ist sechzehn Jahre alt. Ich bin doch nicht sein Babysitter«, erwiderte Adrian unwillig.
Kurz nach Paolas Rückkehr hatte er die Hoffnung gehegt, sie könnten wieder zusammenfinden. Doch seine Ex-Frau hatte sich nicht geändert. Mit einem Schlag hatte Paola nicht nur seine Hoffnungen auf einen Neuanfang zerstört, sondern wollte ihm nun auch noch den Sohn entreißen, um den er sich acht Jahre aufopfernd gekümmert hatte. Dass sie – eiskalt und skrupellos – sein Leben ein zweites Mal zerstörte, konnte und wollte er ihr nicht verzeihen.
Abwehrend hob Paola die Hände. »Schon gut. Warum bist du so aggressiv? Ich habe dir doch nichts getan.«
Adrian lachte auf.
»Richtig. Du machst nur ein zweites Mal alles kaputt, was ich mir mühsam aufgebaut habe. Sonst hast du mir wirklich nichts getan.«
Über diese Anschuldigung konnte Paola nur den Kopf schütteln.
»Was hast du denn von Joshua erwartet?«, fragte sie spitz. »Dass er er aus lauter Dankbarkeit nie mehr von deiner Seite weichen und dein Händchen halten wird?«
In ihre Worte hinein drehte sich ein Schlüssel im Schloss. Adrian atmete erleichtert auf, als Joshua und Dési hereinkamen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre seiner Ex-Frau an die Gurgel gegangen.
»Hallo, ihr zwei. Da seid ihr ja«, begrüßte er die beiden. »War die Suche erfolgreich?«
»Zum Glück. Stell dir vor, Paul hat …«
»Wir haben jetzt keine Zeit mehr für Smalltalk«, ging Paola ungeduldig dazwischen. »Hast du deine Sachen fertig gepackt?«
Sie wandte sich ab und ging zur Tür.
»Da gibt es nichts zu packen.« Joshuas Stimme war fest. Dési sah ihren Freund überrascht an. Genauso wie Paola.
»Wie bitte? Ich dachte, wir hätten alles besprochen.«
»Das dachte ich auch. Aber ich habe mich geirrt. Ich komme doch nicht mit nach Zürich.«
Dési schlug die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien vor Glück.
Adrian stand da wie zur Salzsäule erstarrt. Paolas Augen feuerten wütende Blitze auf ihren Sohn ab.
»Willst du mich auf den Arm nehmen?« Mit einem Schlag war all das aus ihrem Wesen verschwunden, was Joshua so gefallen hatte. Ihre Liebenswürdigkeit. Der Charme und Witz, mit denen sie ihre Umgebung zu verzaubern verstand. Alles wie weggeblasen. Statt dessen erinnerte ihn ihr Gesicht an das einer Hexe. Genau wie ihre Stimme. »Du holst jetzt sofort deine Sachen! Der Flug ist gebucht, das Taxi muss jeden Moment hier sein.« Wie auf Kommando ertönte auf der Straße ein Hupen.
Langsam schüttelte Joshua den Kopf.
»Nein, Paola. Ich komme nicht mit. Mein Zuhause ist hier. Bei Adrian. Und bei Dési.« Wie zum Beweis legte er den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Sein liebevoller Blick streichelte das Gesicht seiner Freundin.
Adrian dagegen verschränkte die Arme und lehnte sich an die Wand. Nie zuvor hatte er das Gefühl der Genugtuung so sehr genossen wie in diesem Augenblick. Doch da war noch etwas anderes. Verwundert stellte er fest, dass ihm Paola fast leidtat, wie sie mit hängenden Schultern dastand und zu verstehen versuchte, was da eben passierte. Niederlagen waren ihr fremd. Das stand deutlich in ihrem Gesicht geschrieben.
»Sag du doch auch mal was dazu!«, verlangte sie von ihrem Ex-Mann. Ihre Stimme bebte vor Zorn.
»Ausgerechnet ich? Ist das nicht ein bisschen viel verlangt?«
In diesem Moment mischte sich Joshua ein.
»Mensch, Paola! Jetzt sei nicht so sauer. Du hast doch alles, was du willst. Dein Engagement in Zürich. Den geheimnisvollen Pierre. Wahrscheinlich jede Menge Verehrer. Gönn’ Papa doch auch mal ein Stück vom Kuchen«, bat er mit sanfter Stimme.
Paola drehte sich um und musterte ihren Sohn eingehend.
»Dir ist schon klar, dass du damit deine Chance verspielst, Schauspieler zu werden«, fragte sie nach einer gefühlten Ewigkeit.
»Und wenn schon.« Joshua zuckte mit den Schultern. »Mir ist mein Abi erst einmal wichtiger. Egal, wie schlecht es ausfällt. Danach kann ich immer noch Theaterwissenschaften studieren. Es geht doch nichts über eine solide Ausbildung.«
»Du klingst schon wie dein Vater.« Verächtlich verzog Paola das Gesicht. Das Taxi hupte erneut. Sie gab sich einen Ruck. »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als dir Glück zu wünschen.« Sie gab sich einen Ruck, trat auf Joshua zu und küsste ihn links und rechts auf die Wange. »Leb wohl, mein Sohn.« Dési und Adrian dagegen strafte sie mit Missachtung, als sie ihre Vergangenheit hinter sich ließ und durch die Tür ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
*
Seit einer Weile saß Petra Lekutat nun schon am Bett ihrer Freundin Anna. Trotzdem hatte sie bisher kaum ein Wort gesagt. Ganz im Gegenteil war sie dankbar dafür, dass ihre Freundin plauderte wie ein Wasserfall. Doch irgendwann versiegte der Redestrom und Anna fiel auf, wie still ihre Freundin war. »Stimmt was nicht mit dir?«, erkundigte sie sich besorgt.
Auf der einen Seite freute sich Petra, endlich auch einmal im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Auf der anderen schämte sie sich.
»Ach, seit gestern ist mir ein bisschen schlecht. Aber das ist halb so wild.« Ihr Stöhnen strafte sie Lügen.
Anna Wolter runzelte die Stirn.
»Deiner Tochter kannst du vielleicht etwas vormachen. Aber mir nicht«, erklärte sie energisch. »Raus mit der Sprache. Was ist los?«
»Ach … na ja … weißt du … «, druckste Petra herum, bis sie es nicht länger aushielt. »Ehrlich gesagt geht es mir schon seit Tagen schlecht. Ich muss mich dauernd übergeben und habe schreckliche Bauchschmerzen.«
Schlagartig zerplatzte Annas Hoffnung, in Sachen Kinderbetreuung auf die Hilfe ihrer Freundin zählen zu können. Doch das war jetzt nicht so wichtig.
»Und was sagt Christine dazu?«
Petra verdrehte die Augen.
»Es gibt nichts Schlimmeres als eine Ärztin als Tochter.«
»Da hast du auch wieder recht.« Anna schüttelte den Kopf. »Ist ja auch egal. Zum Glück gibt es noch mehr Ärzte auf der Welt. Ich würde sagen, du bist genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort.«
Trotz ihrer Beschwerden konnte sich Petra ein Lächeln nicht verkneifen.
»Ehrlich gesagt ist das einer der Gründe, warum ich hier bin.«
»Worauf wartest du dann noch?« Im Überschwang wollte sich Anna aufrichten. Der Schmerz, der ihr durch das Hinterteil fuhr, erinnerte sie auf unbarmherzige Art und Weise daran, warum sie in der Klinik gelandet war. Stöhnend sank sie in die Kissen zurück. »Zwei richtige alte Schachteln sind wir!«, seufzte sie deprimiert.
»Zum Glück gibt es Recycling«, platzte Petra heraus und streckte sich nach der Fernbedienung, um eine Schwester zu rufen.
*
Unter dem Schein der Taschenlampe zogen sich Jakobs Pupillen zusammen und weiteten sich wieder.
»Sie können aufhören. Auch wenn Sie mich blenden wollten, weiß ich, wer Sie sind, Dr. Weigand«, sagte der Pfleger Jakob.
»Freut mich außerordentlich. Vorhin hat das nicht so gut geklappt.« Matthias steckte die kleine Taschenlampe ein und richtete sich auf. Er wandte sich an seine Kollegin Sophie Petzold, die an einem fahrbaren Stehpult stand. »Augen normale Reaktion auf Licht und Konvergenz.«
Sie wusste, was er von ihr erwartete und machte eine