Dann hörte ich sie kommen – im Sturmschritt, wie immer, und ich sah ihre dürren Stotzen über die Straße fliegen.
Wieder wartete ich, bis sie nahe genug heran war – und spannte das Seil mit aller Kraft an.
Da lag sie schon und schrie.
Das Mädchen war mit einer solchen Wucht in das Seil gerannt, daß es mir aus der Hand schlug.
Aber noch bevor ich das Seil wieder holen konnte, hatte sich das Mädchen wieder hochgerappelt und war davongerannt, einfach weiter, ohne sich umzuschauen, nur mit dem Unterschied zu sonst, daß sie jetzt heulte.
Noch am Abend kam ihr Onkel, der Schuhmacher, und beschwerte sich bei meiner Mutter: das Mädchen habe sich beide Knie aufgerieben und einen Ellbogen; verschrocken sei sie auch, die traue sich nun vielleicht gar nicht mehr zu rennen. Aber das glaubte ich nicht.
Mit der Schnur – es war nicht die gleiche und auch kein Seil, sondern eine neue Schnur: mit der machte ich noch etwas anders. Auf der einen Seite hängte ich einen Geldbeutel dran, legte ihn wieder vor unserem Haus auf die Straße, streute frisches Gras auf die Schnur und verschlupfte hinter der Miste.
Ich war neugierig, wer sich nach dem Geldbeutel bückte – vielleicht die alte Nachbarin, auf die hatte ich es ja hauptsächlich abgesehen, die war immer so neugierig und wollte immer wissen, was im Haus passierte.
Es war natürlich nichts drin in dem Geldbeutel; es war ein alter Geldbeutel von meinem Ähne, er machte sich die immer selbst, genauso wie seine Schuhe, und der hatte Löcher bekommen, und jetzt hatte er sich einen neuen gemacht.
Ich wollte nicht sofort an der Schnur ziehen, wenn sich die alte Frau nach dem Geldbeutel auf der Straße bückte. Ich wollte warten, bis sie so weit wie möglich unten war, denn sie würde sich ja erst umschauen und dann vorsichtig zugreifen. Dann wollte ich langsam ziehen, so daß sie an Geister glauben mußte.
So war es ja dann auch.
Das Weib kam, sah und blieb stehen. Und ich hielt die Luft an. Vorsichtig machte sie noch einen Schritt, blickte nach links und rechts und hinter sich und neigte sich nach vorne. Ihr rechter Arm schwebte schon über dem Geldbeutel, da zog ich langsam an der Schnur. Hielt inne.
Die Nachbarin richtete sich auf; ihre Hand verschwand unter dem Schurz, so verlegen mochte sie geworden sein.
Dann aber bückte sie sich zum zweiten Mal, und die rechte Hand näherte sich abermals dem Geldbeutel auf der Straße, und der Geldbeutel bewegte sich wieder. Ich hörte auf zu ziehen, sobald sie etwas zu bemerken schien. Und dann mußte sie sogar einen Schritt zur Seite machen, um näher an den Geldbeutel zu kommen. Aber der wanderte immer noch auf unsere Miste zu.
Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen; doch sie konnte nach wie vor niemand entdecken. Trotzdem brach sie ab und setzte ihren Weg fort – ich weiß nicht, wohin – in Richtung Dorfmitte. Ich aber zog den Geldbeutel ganz zu mir her, löste ihn von der Schnur und schob ihn in den Hosensack. Die Schnur wickelte ich zusammen und tat sie in den Schopf; noch wußte ich freilich nicht, für was ich sie wieder brauchen konnte.
Ameisen und Regen
Die Ameisen wanderten seit Stunden über die Straße, schafften Boden zwischen den Steinen heraus; das bedeutete, heute oder spätestens morgen schlug das Wetter um; regnete es. So wurde es uns von den Alten erklärt, und es stimmte. Wir erlebten es immer wieder.
Aber so wie es verschiedenen Regen gab, so gab es verschiedene Ameisen: die da auf der Straße, das waren die roten Ameisen, die seichten einem in die Haut.
Da gab es die anderen im Wald, die viel größeren und schwarzen; sie lebten in Dreckhaufen und rochen auch ganz anders. Man konnte seine Hand in diese Nester zwischen den Bäumen auf dem Boden halten: das sei gut für Rheuma, erklärten die Alten, sagte auch mein Ähne, und ich legte beide Hände in die Ameisen und ließ sie an mir hochkrabbeln. Dann roch ich an meinen Händen und an meinen Armen, und es war ein guter Geruch, fast hätte man davon besoffen werden können.
Ob sie auch den Regen ankündigten, das weiß ich nicht. Jedenfalls waren auch nicht mehr so viele auf dem Haufen zu sehen, wenn es regnete. War doch klar. Wenn es anfing zu gießen, dann stellte ich mich auch unter, warf mir den Kittel über den Kopf und rannte heim. Oft nur in den Schopf, und durch die offene Tür schaute ich dann zu, wie das Wasser vom Himmel kam. Manchmal war das wie in der Bibel, da kam auch oft sehr viel Wasser vom Himmel, wurden Schleusen geöffnet, so erzählte der Herr Pfarrer, der einige Male in unser Haus gekommen war, aber nur, wenn mein Vater nicht da war; und so hatte es auch meine Ahne verzehlt.
Ich hätte gern einmal so viel Wasser gesehen, wie da in der Bibel erzählt wird. Aber wir wurden immer verschont. Wir waren Gerechte.
Neue Kleider
Nein, neue Kleider und Schuhe brauchte ich am allerwenigsten: ich konnte die Leute nie verstehen, wenn sie mir für einen Gefallen, den ich ihnen tat, einen Kittel oder eine Hose schenkten. Das war auch bei meinen Tanten so, und am Anfang sogar bei meiner Mutter. Aber dann hatte sie es zum Glück eingesehen.
Ich hatte ja meine Stiefel; wenn die Sohlen abgelaufen waren, was nicht nur einmal der Fall war, kamen neue drauf. Meistens machte das ein Schuhmacher im Ort, immer der gleiche. Dann aber auch mal mein Ähne, der mir auch regelmäßig die Glatze schnitt. Und wenn ich die Nägel verlor, dann wurden neue eingeschlagen. Die Nägel auf den Sohlen meiner Stiefel waren mir eigentlich das wichtigste: ohne sie hätte ich ja keine Funken auf dem Pflaster schlagen können.
Nein, neue Kleider und Schuhe brauchte ich keine. Ich hatte ja die alten, und die mochte ich mehr als alle andern.
Wenn ich unbedingt eine Hose, ein Hemd, einen Kittel oder einen Hut brauchte, dann holte ich mir diese Sachen von den Vogelscheuchen in den Weizenfeldern und auf den Kirschbäumen. Die paßten mir wie angegossen, da mußte man nicht lange schauen. Und Löcher hatten diese Sachen auch, durch die konnte die Haut atmen.
Es kam vor, daß ich den Kameraden auf dem Feld und zwischen den Ästen meine frischen Sachen anzog, die mir von den Verwandten oder den Leuten aufgedrängt wurden. Das war immer ein Mordsgeschäft. Denn die Vogelscheuchen hatten auch ihren Willen; die wollten auch keine neuen Sachen, die waren mit ihrem alten Gruuschd zufrieden. Und ich mußte dann meine ganze Überredungskunst aufbieten. Schließlich wurden wir uns einig und sie nahmen mein neues Zeugan–wenn es nicht zu oft vorkäme, sagten sie!
Die Vogelscheuchen waren ja mit dem Wind im Bunde: wenn der ging, bewegte sich an ihnen alles, und dann sprachen sie mit mir. Ich behängte mich zeitweise auch mit den Büchsen und Metallstreifen, die zur Abschreckung der Vögel an den Vogelscheuchen hingen. Manchmal band ich mir auch eine Büchse mehr an den Fuß, so daß man mich schon von weitem hörte – Karl der Funkenschläger kommt; mit Büchsen und Funken, hieß es im Flecken.
Schwierigkeiten gab es nur mit den Kappen, den Schals und den Handschuhen: in dieser Hinsicht waren die Vogelscheuchen weniger üppig ausgestattet, so daß ich mich hier von den Leuten und den Verwandten mit neuen Sachen beschenken ließ, schließlich wollte ich nicht frieren. Bei den Vogelscheuchen war das anders: die froren nicht.
Ja, und in der Zeit, in der meine Stiefel beim Schuhmacher waren, brauchte ich ja auch etwas an die Füße: da zog ich halt ganz normale Schuhe an und unterließ für eine Weile das Funkenschlagen.
Im Adler
Wieder einmal hatte ich im Auftrag meiner Mutter meinen Vater zu suchen. Er konnte nur in einer der Wirtschaften hocken: im »Adler«, im »Stern«, im »Grünen Baum«, in der »Traube« oder sonst irgendwo. Aber in einer Wirtschaft war er, das glaubte ich auch.
Draußen war es schon kalt und etwas Schnee gefallen.
Ich hatte mir zwei Kittel angezogen und eine Kappe, die über beide Ohren ging. So trat ich in den »Adler«. Die plötzliche Wärme ließ mir die Augen übergehen; die Nase fing an zu laufen, ich schmierte die Rotze am Ärmel