Bleibt auf dem Meeresgrund. Eine so einfache und doch so unerfüllbare Forderung. Wie kann man sich einer ganzen Welt verschließen, die man einmal gesehen hat? Die Welt der Menschen ist fremd und seltsam. Und gefährlich. Sie haben keine Flossen und ihre Herzen sind wankelmütig. Wenn sie sagen »Ich liebe dich«, können sie sich einen Wimpernschlag später schon wieder umentschieden haben.
Als gäbe es eine Wahl.
»Das wird mir nie passieren«, flüstere ich jede Nacht, bevor die Wellen mich in den Schlaf wiegen. Versprechen und Drohung zugleich. Mein Platz ist hier bei meiner Schwester, deren Augen hell wie der Mond strahlen und in denen alle Sehnsüchte der Welt liegen. Eingeschlossen in einen schwachen Körper, der nur durch trotzige Träume weiterlebt.
»Wie werde ich meinen Prinzen erkennen?«, flüsterst du leise, bevor der Schlaf uns entführt.
»Du weißt, dass es gefährlich ist, an die Oberfläche zu schwimmen«, höre ich im Geist jedes Mal die mahnenden Worte, wenn wir es dennoch tun. Unwiderstehlich angelockt vom leuchtenden Schein des Mondes, der mit den Gezeiten ebenso spielt wie mit unseren Herzen. Der das Blut in unseren Körpern so hin- und herspült, wie Ebbe und Flut über die Strände fließen.
»Heute wird der richtige Prinz für dich dabei sein, Isidira, ich spüre es!«
Die Worte meines Vaters murmeln durch die Wogen, die uns an die Oberfläche tragen. Vielleicht hat er recht. Aber auch er ist nur ein Spielball des Schicksals.
»Heute treffen die Söhne des Abendreiches ein«, erinnere ich dich, während wir Seite an Seite dem Licht entgegenschwimmen. Du hast keinen Blick für mich, keinen Gedanken an die Prinzen auf dem Meeresgrund. Du bist gefangen in deinem Wunsch, endlich ihn zu finden. Dann brechen unsere Köpfe durch die Wellen und wir sehen das Schiff, das sich im Sturm wiegt und ächzt. Du liebst den Sturm, der so toben und wüten kann wie dein eigenes wildes Herz.
Wir hören die panischen Schreie der Matrosen, als der Mast splitternd zerbricht. Sehen zu, wie das hölzerne Ungetüm in den Fluten versinkt und die Menschen mit sich reißt, nur weil sie unnütze Beine statt Flossen haben. Schwächliche Gliedmaßen, die sie nicht im Wasser tragen.
Ihre Schreie tränken das Meer und ich halte mir die Ohren zu, um das Leid auszublenden. Irgendwann verstummen sie und verabschieden ihre Seelen in die Unendlichkeit.
»Lass uns näher schwimmen«, verlangst du und ziehst an meiner Hand. Und auch wenn ich weiß, dass es das Letzte ist, was wir tun sollten, folge ich dir.
Zerborstene Schiffsplanken haben sich in dem tückischen Riff verkeilt, als würden sie die Korallen in einem hilflosen Anflug von Rachsucht bestrafen wollen. Manchmal finden wir Kisten voller Geschmeide und funkelnden Tand. Bestaunen die seltsamen Dinge, deren Sinn sich uns nicht erschließt. Ich bemühe mich, stets Abstand zu halten zu den verlorenen Seelen, und meist gelingt es mir. Doch in dieser Nacht …
Sein Haar ist dunkel und bedeckt sein Gesicht, das die typische sonnengeküsste Farbe der Menschen hat. Ich streiche es beiseite und es fühlt sich rau und dennoch fein unter meinen Fingern an, als ich es berühre. Welche Farbe wohl seine Augen haben? Sein Kinn deutet Entschlossenheit an. Seine Wange zeigt einen frischen Schnitt, die Haut feine Linien, die sicher tanzten, wenn er lachte. Bedauern erfüllt mich.
Da höre ich Isidiras Stimme, die mich zu sich ruft. Doch als ich mich gerade lösen will, spüre ich eine Berührung, einen Griff um mein Handgelenk. Erschrocken keuche ich auf und unsere Blicke verfangen sich.
Es wird sein, als würden alle Sterne der Nacht auf einmal aufleuchten.
»Lass mich los«, flüstere ich lautlos und versuche, meine Hand aus der seinen zu lösen.
Seine Augen werden heller strahlen als die Sonne.
Doch der Griff ist zu stark. Als würde er sich mit aller noch verbliebenen Kraft an das Leben klammern. Hoffen, dass ich ihn retten kann. Wie falsch er doch liegt.
Das Meer verstummt, die Zeit bleibt stehen.
Sein Mund sagt kein Wort und doch prasseln die Fragen auf mich ein.
Und dein Herz wird wissen: Er ist es!
Mit einem Flossenschlag löse ich den Bann und tauche ab. Die kalten Wogen löschen die Hitze, die mein Herz in Brand gesetzt hat, und ich flüchte vor dem Gefühl, in mir selbst zu ertrinken.
Immer weiter schwimme ich, nur weg von diesen Augen, die bis auf den Grund meiner Seele geblickt haben. Fort, nur fort.
Doch dann trifft mich der Gedanke wie ein Schlag: Isidira!
Ich halte inne und blicke umher, doch sie ist nirgends zu sehen. Schnell drehe ich um und schwimme erneut nach oben. Als ich durch die Wasseroberfläche stoße, sehe ich, wie meine Schwester den Fremden in ihren Schoß gezogen hat. Wie sie mit ihrer Hand seine Stirn streichelt.
Doch sein Blick ist abgewandt, suchend – bis er den meinen findet. Und ihn festhält.
»Isidira!«, sende ich panisch den stummen Ruf nach meiner Schwester aus, die viel zu lange braucht, um aufzusehen. »Wir müssen zurück!« Zögernd lässt sie von ihm ab, küsst seine Stirn, und nach einer gefühlten Ewigkeit ist sie endlich wieder an meiner Seite und wir tauchen hinab in die Sicherheit der Tiefe.
»Er ist es«, höre ich dich beschwörend murmeln. »Ich bin mir sicher!«
»Wie kannst du dir sicher sein?«, schnaube ich.
»Ich weiß es einfach«, beharrst du.
»Mir ist nicht aufgefallen, dass das Meer verstummt wäre«, versuche ich dir die Hoffnung zu nehmen.
»Er war verwirrt, er hätte mir sicher in die Augen gesehen, wärest du nicht dazugekommen«, antwortest du ungewohnt heftig.
»Du hättest alles vergessen und wärest nie mehr zu mir zurückgekommen!«
»Na und? Das ist es wert.«
»Es ist ein Mensch!« setze ich gekränkt den finalen Stich.
»Er ist es«, höre ich dich beschwörend murmeln. »Ich bin mir sicher!«
Doch es klingt, als müsstest du dich selbst davon überzeugen, während ich … eine seltsame Leere spüre, die sich in mir ausbreitet, seit er mich mit seinen dunklen Augen angesehen hat.
Als wir auf dem Meeresgrund ankommen, schwimmst du, ohne mich eines Blickes zu würdigen, davon.
Es war das einzig Richtige, beschwöre ich mich selbst.
Warum fühlt es sich dann an, als würde mein Herz in Stücke gerissen werden?
Nichts erfreut mich an diesem Tag. Weder das Spiel der Strömungen, die wunderschöne Muster in den Sandboden malen, noch das Spiel mit den Fischen, die mich umschweben und auf Streicheleinheiten hoffen. Meine Gedanken sind an der Wasseroberfläche gefangen und ich denke mit jedem vergehenden Moment intensiver darüber nach, zurückzuschwimmen.
Nur ein einziger Blick, lockt die Stimme in mir.
Als die Sonne untergeht, kann ich mich nicht mehr bezwingen, und rascher als je zuvor tauche ich hinauf – und entdecke dich, wie du auf unserem Felsen sitzt und wartest. Dein verträumter Blick schmerzt mich. Schon möchte ich zu dir schwimmen, doch da sehe ich ein Pferd an den Strand galoppieren, angetrieben von seinem ungeduldigen Reiter. Er rast