Der werfe den ersten Stein - Ein Schweden-Krimi. Thomas Kanger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Kanger
Издательство: Bookwire
Серия: Kommissarin Elina Wiik
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726344226
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beherrscht wurde.

      »Es ist furchtbar«, jammerte die Frau. »Entsetzlich. Unser Bürgerhaus. Wie kann jemand so was machen, ein richtiger Frevel! Sie müssen versprechen, den Täter zu fassen.«

      Elina versprach es. Auf dem Weg hinaus hielt die Frau einem Mann mit zurückgekämmtem dickem weißen Haar die Tür auf. Elina erkannte ihn wieder, er hatte in der Menschenansammlung vor der Absperrung gestanden. Er war es, der beim Anblick des abgebrannten Gebäudes geweint hatte.

      »Sind Sie Polizistin?«, fragte er.

      »Ja, das bin ich.« Sie stand auf und reichte ihm die Hand. »Ich bin Kriminal ... Mein Name ist Elina Wiik«, sagte sie.

      »Aha«, sagte der Mann.

      Er erzählte vom ersten Mal, als er im Bürgerhaus in Surahammar gewesen war, im Mai 1935. In dem alten Haus, das wie eine Burg ausgesehen hatte, das abgerissen worden war. Das allererste Bürgerhaus von Surahammar war ein kleines rotes Haus aus Holz gewesen, südlich der Gemeinde, das vor einigen Jahren ebenfalls abgerissen worden war.

      »Eine Zeit lang hatten wir hier drei Häuser gleichzeitig«, sagte er. »Jetzt haben wir gar keins mehr. Ich kann nicht verstehen ...«

      Der Mann beendete den Satz nicht.

      Elina Wiik begriff, dass sie heute viele traurige Sozialdemokraten würde anhören müssen. Solange sie mich nicht von der Arbeit abhalten, macht es nichts, dachte sie. Vielleicht erfährt man ja auch nebenbei etwas Wichtiges.

      Ihr fiel es nicht schwer, die Gefühle der Menschen zu verstehen. Der Mann vor ihr war vielleicht zehn Jahre älter als ihr Vater. Botwid Wiik war sein ganzes erwachsenes Leben lang Parteimitglied gewesen und hätte vermutlich auch geweint, wenn das Bürgerhaus von Barbaren zerstört worden wäre.

      Im letzten Jahr hatte ihr Vater seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert, und Elina war aufgefallen, wie wenig gebrochen er war trotz seines harten Lebens. Botwid Wiik war im Schwedisch sprechenden Teil von Österbotten geboren und als Kriegskind nach Schweden gekommen. Er war bei seinen Pflegeeltern geblieben und zwanzig Jahre lang Wald- und Hafenarbeiter in Norrbotten gewesen, bevor er nach Stockholm zog und sich zum Metallarbeiter umschulen ließ.

      Der Grund für seinen Umzug hieß Maria, Elinas Mutter, die er auf einer Parteikonferenz kennen gelernt hatte. Da die Liebe groß und Maria alles nördlich von Gävle fremd gewesen war, hatte ihr Vater seine wenigen Besitztümer genommen und war nach Süden gezogen. Mit Mitte sechzig hatte er sich pensionieren lassen, da war er Vorarbeiter in der Werkstatt gewesen. Jetzt zog er Blumen in seinem Reihenhausgarten in Märsta und las Bücher. Er ging immer noch zu den Parteiversammlungen.

      Elina verlor sich ein Weilchen in ihren Gedanken an den Vater. Ihr stärkstes Gefühl für ihn war Zärtlichkeit, und sie wünschte, sie würden sich öfter treffen. Mit ihrer Mutter, die bedeutend jünger war als ihr Mann, hatte sie ein eher kompliziertes Verhältnis gehabt, besonders in der Jugend. Aber seitdem Elina ihr eigenes Leben führte, verstanden sie sich gut.

      Die folgenden Stunden waren genau so, wie Elina Wiik vermutet hatte. Viele erregte Menschen wollten mit der Polizei über das sprechen, was passiert war. Der eine oder andere entwickelte Verschwörungstheorien. Einige Personen waren Zeugen des Brandes gewesen, sie waren vom Lärm der Feuerwehr aufgewacht und hatten aus dem Fenster geschaut. Diesen Leuten hörte sie besonders genau zu. Aber niemand schien etwas zu wissen, was die Ermittlungen vorantreiben könnte.

      Sie schrieb Namen und Adressen auf. Jönsson musste entscheiden, ob jemand von ihnen eingehender verhört werden sollte.

      Um eins kam Niklasson zum Revier.

      »Hunger, Wiik? Wir haben was auf die Schnelle gegessen; wenn du dich also jetzt stärken möchtest, kann ich dich eine Weile ablösen.«

      »Ja, danke.« Elina stand sofort auf. »Was ist bei der Umfrageaktion an den Türen herausgekommen?«

      »Wir haben viele angetroffen, die aufgewacht und nach draußen gegangen sind. Aber niemand scheint etwas Verdächtiges gesehen zu haben. Alle scheinen ganz und gar von dem Schauspiel gefangen gewesen zu sein. So ein großes Maifeuer hat hier wahrscheinlich noch niemand gesehen.«

      Es war der 3. Mai und dieser Kommentar war nicht einmal deplatziert. Elina Wiik fühlte sich trotzdem beschämt und sah zu Boden.

      Papa und all den Menschen, die heute Morgen hier waren, hätte das nicht gefallen, dachte sie. Hoffentlich redet er nicht so mit den älteren Leuten, die hierher kommen.

      Aber sie behielt es für sich.

      Sie verließ das Polizeirevier und suchte nach einer Salatbar oder etwas Ähnlichem. Fastfood wollte sie nicht. Mein Körper mag das nicht, hatte sie sich eingeredet. Außerdem war sie sehr zufrieden mit ihrer Figur; die wollte sie sich nicht durch Hamburger und Fritten verderben.

      Nördlich der Fußgängerzone gab es zwei Kebablokale, die auch Salate anboten. Sie ging in das eine und bestellte sich die sättigendste Variante. Nachdem sie bezahlt hatte, fragte sie, ob man sich irgendwo draußen hinsetzen und essen könnte, und wurde zum Mitgårdspark hinter der Fußgängerzone verwiesen. Dorthin ging sie und setzte sich auf eine Bank. Auf der Nachbarbank saßen zwei offensichtlich betrunkene Männer.

      Zwei Überbleibsel aus einer untergegangenen Fabrikgesellschaft, dachte sie.

      Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, es war ein Gefühl, als sei der Sommer schon da. Als sie hinter sich schaute, sah sie gelbe Häuser aus Holz mit Gärten, die in zartem Grün leuchteten. Vor ihr lag das Bürgerhaus. Vom Gebäude war nur ein Skelett aus Ziegelsteinen übrig geblieben.

      Nach fünfzehn Minuten kehrte sie zurück zum Revier.

      »Jönsson ist unterwegs, um mit den Angestellten des Hauses zu sprechen«, sagte Niklasson. »Und demnächst kommt jemand von der Spurensuche aus der Stadt. Keine Ahnung, wer es ist. Ich mach jetzt mal weiter und klappere die Wohnungen ab.«

      Niklasson erhob sich und ging hinaus.

      Ein Journalist der Vestmanlands Länstidningen kam und fragte nach dem Stand der Ermittlungen. Elina Wiik verwies ihn auf die Pressekonferenz, die später am Nachmittag in Västerås stattfinden sollte.

      Zehn Minuten nach zwei wurde die Tür geöffnet und ein Junge trat ein, der hinter dem Tresen des Empfangs kaum zu sehen war. Elina Wiik schaute auf, sagte aber nichts. Der Junge sagte auch nichts, schließlich brach Elina das Schweigen.

      »Ja?«, sagte sie in fragendem Ton.

      »Ich war das, der angerufen hat.«

      »Wie bitte, was hast du gesagt?«

      »Ich hab angerufen heute Nacht. Also die Feuerwehr.«

      Im Bruchteil einer Sekunde waren alle anderen Gedanken aus Elina Wiiks Gehirn wie weggeblasen.

      »Wann hast du angerufen und von wo?« Sie ließ ihn nicht aus den Augen.

      Eine Frage zu viel, konnte sie gerade noch denken, da antwortete der Junge schon:

      »Es war fünf nach halb vier, von der Telefonzelle in der Fußgängerzone.«

      Zwei Richtige von zwei Möglichkeiten, dachte Elina. Im Radio hat er das nicht gehört. Und er hat eine etwas mädchenhafte Stimme. Es ist der richtige Junge.

      Sie spürte eine leise Bewegung im Magen.

      »Komm herein und setz dich«, forderte sie ihn auf und richtete den Notizblock auf dem Tisch aus.

      Am liebsten hätte sie ihn sofort verhört, aber sie wusste, das war Jönssons Sache.

      »Der Reihe nach«, sagte sie. »Wie heißt du?«

      »Peter Adolfsson. Ich wohne an der 252, der Landstraße auf der anderen Seite vom Kanal. Soll ich erzählen, was ich gesehen habe?«

      »Später. Ein Kollege wird sich um dich kümmern. Warum warst du nachts um diese Zeit unterwegs?«

      »Ich bin Zeitungsbote. Morgens um halb vier hol ich die Zeitungen vorm Büro der Länstidningen