»Kann ich noch mal darüber nachdenken? Auf jeden Fall freue ich mich über das Angebot.«
»Denk drüber nach«, sagte Stensson. »Aber nicht zu lange.«
Sie erhob sich und ging hinaus auf den Flur. Mit ihrem Ausweis öffnete sie eine weitere Tür, um auf ihren Korridor zu gelangen. Er war leer und bisher schien noch niemand gekommen zu sein. »Kriminalassistentin Elina Wiik«, stand an der vierten Tür von links.
Yes, sometimes you’re such an ass, dachte sie zum hundertsten Mal, als sie sich auf ihren Bürostuhl setzte.
Das Zimmer war klein und schmal, ein Regal voller Aktenordner bedeckte die hintere Wand, der Schreibtisch wurde vom Computer beherrscht. Keine Fotos auf dem ansonsten aufgeräumten Tisch, dagegen mehrere Topfpflanzen auf der Fensterbank. Die Vorhänge waren hellgrün gemustert. An der Wand vorm Schreibtisch hingen gerahmte Bilder in gesättigten Farben, Bilder, die sie auf ihren Auslandsreisen im Urlaub gekauft hatte.
Sie dachte an Kjell Stenssons Vorschlag. Arbeit im Rauschgiftdezernat bedeutete lange und viele Nächte in zivilen Polizeiwagen, um den Besuchsverkehr in Wohnungen zu registrieren, in denen Verdächtigte lebten. Wenn genügend Besucher identifiziert wurden, musste man zuschlagen – in der Hoffnung, einen größeren Fang zu machen. Und hinterher Verhöre von einer Klientel, der man häufig jede Silbe aus der Nase ziehen musste, die jungen schreienden Mädchen natürlich ausgenommen, wenn man Stensson glauben konnte.
Viel zu wenig Arbeit mit dem Kopf und viel zu viel mit dem Sitzfleisch, dachte sie. Das war nicht ihr angestrebtes Ziel. Sie wollte Fälle, bei denen die überwiegende Arbeitszeit dafür genutzt wurde, das Verbrechen aufzuklären, nicht um konstatieren zu müssen, wie weit sie schon begangen waren.
Sie hatte allerdings das Gefühl, der Weg bis zu diesem Ziel sei noch weit. Sie wollte komplizierte, schwere Verbrechen. Nach vier Jahren bei der Kripo hatte sie bisher nicht eine einzige wirklich große Aufgabe gehabt, in die sie sich vertiefen konnte. Neben dem begrenzten Teil von Auto- und Wohnungseinbrüchen, also solchen Fällen, die fast immer am Boden der großen »Pyramide« landeten und irgendwann mangels Beweisen und Interesses abgeschrieben wurden, musste sie sich um die meisten angezeigten Fälle von Frauenmisshandlung in der Stadt kümmern.
Es bereitete ihr jedes Mal erneut Schwierigkeiten, einer geschlagenen Frau gegenüberzutreten. Noch schlimmer fand sie die Begegnung mit Kindern, die Opfer von Verbrechen geworden waren. Aber mit wachsender Erfahrung wurde sie immer geschickter, eine Anklage gegen die Täter zu erreichen. Obwohl sie die Bilder von den blau geschlagenen Frauen lange verfolgten, empfand sie ihre Arbeit als sinnvoll. Das war eine entschieden größere Herausforderung, als den größten Teil der Zeit in einem Fahndungsauto herumzusitzen.
Wenn sie anbiss und sich um eine Stelle im Rauschgiftdezernat bewarb, würde der Weg bis zu der Art Verbrechen, die sie am liebsten aufklären wollte, noch länger werden. Da war es schon besser, die Zeit im Kriminaldezernat abzusitzen.
Du bist eine richtige kleine Karrieristin, dachte sie lächelnd.
Sie war schon acht Jahre bei der Polizei in Västerås. Nach Abschluss der Polizeihochschule zunächst als Anwärterin, dann als frisch gebackene Polizistin. Vier Jahre lang hatte sie sich danach die Schuhsohlen auf den Straßen der Stadt abgelaufen, ehe es ihr mit Glück und Geschick gelang, ihr erstes Ziel zu erreichen und Ermittlerin zu werden.
Ein Fall von Frauenmisshandlung hievte sie nach oben. An einem Novemberabend 1997 wollte Elina Wiik gerade ihre Patrouille beenden, als eine schwer misshandelte Frau mit dem Krankenwagen im Zentralkrankenhaus eingeliefert wurde. Die Krankenschwester in der Notaufnahme hatte sofort Alarm geschlagen, und als der Dienst habende Beamte des Reviers sah, dass die Nachtschicht nur aus Männern bestand, forderte er Elina Wiik auf, den Streifenwagen ins Krankenhaus zu begleiten.
Die Frau hatte mit niemandem sprechen wollen, Elina jedoch gebeten zu bleiben. Elina hatte vierzehn Stunden lang an ihrem Bett gesessen, war ein wenig eingedöst, wenn die Frau schlief, und hatte sich meistens still abwartend verhalten, wenn die Frau wach war oder von einem Arzt behandelt wurde.
Allmählich war ein vorsichtiges Gespräch in Gang gekommen. Langsam hatte die Frau von ihren fast unaussprechlichen Erlebnissen erzählt. Es war keine Überraschung für Elina, dass ein früherer Ehemann sie misshandelt hatte. Sie war an den darauf folgenden Ermittlungen beteiligt gewesen und hatte eine entscheidende Rolle dabei gespielt, dass die Frau es wagte, vor Gericht als Zeugin auszusagen. Der Mann wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.
Die Chefs waren beeindruckt gewesen von der Hartnäckigkeit der jungen Polizistin in einem Fall, der eigentlich nicht ihrer war. Nach dem Erfolg wurde ihr eine Stelle im Kriminaldezernat angeboten.
Das Erlebnis hatte Elina Wiik davon überzeugt, dass kleine Ermittlungsschritte schneller zum Ziel führen konnten als große. Geduld und Systematik waren ihre Mittel.
Ich wäre wahrscheinlich gut in Ermittlungen von Mordfällen, dachte sie. Wenn ich nur eine Chance bekäme.
Ganz zuoberst in dem Dokumentenkorb auf ihrem Schreibtisch lag eine Plastikhülle mit Verhörabschriften. Sie nahm sie heraus und begann ohne großen Enthusiasmus zu lesen. Es ging um einen einfachen Betrugsfall: Eine arbeitslose Frau hatte versucht, mehr Geld bei der Post abzuheben, als ihr zustand, indem sie eine Zwei vor die Summe von 1227 Kronen gesetzt hatte. Das Elend wurde nur noch dadurch verstärkt, dass die Frau sich nicht getraut hatte, mehr als eine Zwei hinzuschreiben.
Innerhalb weniger Tage musste Elina Wiik ihre Ermittlungsergebnisse beim Bezirksstaatsanwalt abliefern, der die gescheiterte Postbetrügerin routiniert ohne großen Aufwand verurteilen würde. Einen Tag nach dem Urteil würde er die Frau vollkommen vergessen haben. Vermutlich würde er nicht mal unter Folter ihren Namen nennen können.
Um zwanzig vor acht hörte sie Schritte auf dem Korridor und schaute hoch. Der erste Kollege vom Kriminaldezernat war auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz.
Sie sah gerade noch Egon Jönssons Rücken an ihrer Tür vorbeihuschen. Offenbar hatte Jönsson wahrgenommen, dass Elina Wiik den Kopf hob, denn er machte noch einmal einen Schritt zurück und grüßte sie. Elina erwiderte den Gruß. Keiner von beiden lächelte.
Die Kollegen hielten Jönsson, der dreiundvierzig Jahre alt war und schon seit mehr als zehn Jahren im Dezernat arbeitete, für Mittelmaß. Das bedeutete eigentlich nichts weiter, als dass er weder besser noch schlechter als die Ermittler im Allgemeinen war. Die Kollegen sahen das jedoch nicht ganz so. Mittelmaß zu sein war gleichbedeutend mit schlechter als sie, da sich alle für besser als den Durchschnitt hielten.
Elina Wiik hatte beschlossen, keine Meinung von Jönssons Fähigkeiten zu haben, bevor sie nicht gemeinsam an einem Fall gearbeitet hatten. Was bisher noch nicht geschehen war. Ihr Eindruck war allerdings, dass er genauso war, wie gesagt wurde: Mittelmaß.
Zwei Minuten später steckte ihr Chef, Oskar Kärnlund, ein großer Mann, der bald pensioniert werden würde, seinen fast kahlen Schädel durch die geöffnete Tür.
»Guten Morgen, Wiik. Geht’s gut?«, fragte er und ging weiter, ohne die Antwort abzuwarten.
Das wird vermutlich ein ereignisloser Tag, dachte Elina und las weiter in ihren Verhörprotokollen.
»Übrigens, Wiik ...«
Sie hob den Kopf und sah wieder Kärnlund in der Tür.
» ... vergiss die 8-Uhr-Besprechung nicht. Heute Nacht ist einiges passiert.«
3
Eine Minute nach acht schloss der letzte Teilnehmer die Tür zum Besprechungszimmer im ersten Stock. Einige Kriminalbeamte aus Västerås und ein Kriminalkommissar aus Hallstahammar saßen mit am ovalen Tisch. Alle hatten Kaffeetassen vor sich stehen, denn der Raum war auch der Pausenraum des Dezernats.
Oskar