»Das ist natürlich blöd.«
»Allerdings.«
Bosch drückte den Deckel wieder auf den Container und wollte ihn gerade auf das Bord zurückstellen.
»Kann ich ihn mitnehmen?«, fragte Ballard.
Bosch drehte sich zu ihr um. Er wusste, dass er ihn ersetzen und sie sich problemlos selbst einen besorgen könnte. Deshalb vermutete er, dass sie ihn damit tiefer in eine Partnerschaft hineinziehen wollte. Wenn er ihr etwas gab, bedeutete das, dass sie zusammenarbeiteten.
Er reichte ihr den Container.
»Meinetwegen.«
»Danke«, sagte sie.
Sie schaute zum offenen Tor des Bauhofs.
»Dann fange ich heute Nacht mit den Filzkarten an.«
Bosch nickte.
»Wo waren sie?«
»Im Lager«, sagte Ballard. »Niemand wollte sie wegwerfen.«
»Habe ich mir fast gedacht. Schlau.«
»Was hätten Sie gemacht, wenn sie noch in den Aktenschränken gewesen wären.«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich Money gefragt, ob ich sie in der Station durchsehen kann.«
»Hätten Sie sich bloß die Karten vom Tag oder der Woche des Mords angesehen? Oder sogar vom ganzen Monat?«
»Nein, alle. Was sie noch gehabt hätten. Wer kann schon sagen, ob der Kerl, der das getan hat, ein paar Jahre davor oder ein Jahr danach kontrolliert worden ist?«
Ballard nickte.
»Schon klar, nach jedem Strohhalm greifen.«
»Wollen Sie es sich jetzt lieber noch mal überlegen? Ist nämlich ein Haufen Arbeit.«
»Nein, das geht schon in Ordnung.«
»Gut.«
»Ich muss dann mal los. Vielleicht komme ich heute sogar früher zum Dienst – um schon mal anzufangen.«
»Dann viel Erfolg. Wenn noch Zeit bleibt, komme ich auch vorbei. Aber erst muss ich einen Durchsuchungsbefehl vollstrecken.«
»Klar.«
»Sonst rufen Sie mich einfach an, wenn Sie auf was stoßen.«
Er holte eine Visitenkarte mit seiner Handynummer aus der Hosentasche und reichte sie ihr.
»Mache ich«, sagte Ballard. Sie hielt den Container mit beiden Händen vor ihrem Bauch und wandte sich zum Gehen. Doch dann machte sie noch einmal kehrt und kam wieder auf Bosch zu.
»Lucy Soto hat gesagt, Sie kennen Daisys Mutter«, sagte sie. »Ist das Ihre Klagebefugnis?«
»So könnte man es wahrscheinlich nennen.«
»Wo ist die Mutter – falls ich mit ihr sprechen möchte?«
»Bei mir zu Hause. Sie können jederzeit mit ihr reden.«
»Sie leben mit ihr zusammen?«
»Sie wohnt im Moment bei mir. Nur vorübergehend. Woodrow Wilson Drive 26–20.«
»Okay. Alles klar.«
Ballard drehte sich wieder um und entfernte sich. Bosch sah ihr nach. Diesmal machte sie nicht noch einmal kehrt.
6
Bosch ging ins Gefängnis zurück, um den Durchsuchungsbeschluss zu holen und die Zelle mit den Cold Cases abzuschließen. Dann überquerte er die First Street und betrat das Detective Bureau des SFPD durch den Seiteneingang. Zwei der Vollzeit-Detectives saßen an ihren Plätzen. Bella Lourdes war die leitende Ermittlerin, die in den meisten Fällen, in denen Bosch seinen Schreibtisch verlassen musste, mit ihm ausrückte. Sie hatte etwas sanft Mütterliches, das über ihre Kompetenz und Hartnäckigkeit hinwegtäuschte. Oscar Luzon war älter als Lourdes, aber noch nicht so lange beim Detective Bureau wie sie. Bei ihm machte sich ein Hang zu bewegungsmangelbedingtem Übergewicht bemerkbar, und er trug seine Dienstmarke wie ein Drogenfahnder an einer Kette um den Hals und nicht an seinem Gürtel. Sonst wäre sie vielleicht nicht zu sehen gewesen. Danny Sisto, der Dritte im Bunde, war nicht da.
Bosch ging zu Captain Trevinos Büro und stellte fest, dass die Tür offen und der Leiter des Detective Bureau an seinem Schreibtisch war. Er schaute von seinem Schreibkram zu Bosch auf und fragte: »Wie ist es gelaufen?«
»Alles bestens.« Zum Beweis hielt Bosch den Durchsuchungsbeschluss hoch. »Sollen wir uns alle zusammensetzen und überlegen, wie wir vorgehen?«
»Ja, holen Sie Bella und Oscar dazu. Sisto ist an einem Tatort, er wird es nicht rechtzeitig schaffen. Ich schaue, ob ich noch jemand von der Streife kriege.«
»Wie sieht’s mit dem LAPD aus?«
»Warten wir erst mal, bis wir klarer sehen. Dann rufe ich Foothill an und kläre das von Captain zu Captain mit ihm ab.«
Trevino hatte bereits beim Sprechen nach dem Telefon gegriffen, um in der Einsatzzentrale anzurufen. Bosch verließ das Büro und winkte Lourdes und Luzon mit dem Durchsuchungsbeschluss ins Besprechungszimmer. Bosch betrat den Raum, nahm sich einen Notizblock von einem Beistelltisch und setzte sich an ein Ende des ovalen Konferenztisches. Das sogenannte Besprechungszimmer war eigentlich ein Mehrzweckraum, der für Fortbildungsseminare, als Esszimmer, als behelfsmäßige Kommandozentrale und gelegentlich für ermittlungstechnische und taktische Besprechungen der insgesamt fünf Ermittler des Detective Bureau verwendet wurde.
Bosch schlug den Durchsuchungsbeschluss auf und las noch einmal den Tatverdachtsabschnitt, den er selbst verfasst hatte. Er ging auf einen vierzehn Jahre zurückliegenden Mordfall zurück. Das Opfer war Cristobal Vega, 52, der mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet worden war, als er mit seinem Hund von seinem Haus zum Pioneer Park ging. Vega war ein altgedientes Gangmitglied, das in der Varrio San Fer 13, einer der ältesten und gewalttätigsten Gangs des San Fernando Valley, eine hohe Stellung eingenommen hatte.
Dennoch hatte er in der kleinen Stadt San Fernando großes Ansehen genossen, weil er dort in unverhohlener Patenmanier Streitigkeiten in der Gemeinde geschlichtet, lokale Kirchen und Schulen mit großzügigen Spenden unterstützt und an Weihnachten Bedürftige mit Fresskörben beschenkt hatte.
Dieses Image eines ehrenwerten Bürgers diente jedoch nur der Verschleierung seiner über dreißigjährigen Gangzugehörigkeit. Innerhalb der VSF war er berüchtigt für seine Brutalität und unter dem Namen Uncle Murda bekannt. Er war immer mit zwei Bodyguards unterwegs und verließ das SanFer-Territorium so gut wie nie, weil ihn alle benachbarten Gangs infolge seiner hohen Stellung und der von ihm geplanten Raubzüge in umliegende Gebiete auf ihre Todesliste gesetzt hatten. Die Vineland Boyz wollten seinen Tod. Die Pacas wollten seinen Tod. Die Pacoima Flats wollten seinen Tod. Und diese Liste ließ sich beliebig fortsetzen.
Der Mord an Uncle Murda war auch insofern überraschend gewesen, weil er allein unterwegs gewesen war. Er hatte zwar eine Pistole im Bund seiner Jogginghose stecken gehabt, aber offensichtlich geglaubt, sein bestens gesichertes Haus kurz nach Tagesanbruch ungeschützt verlassen zu können, um mit seinem Hund in den Park zu gehen. Dorthin schaffte er es jedoch nicht. Er wurde ein paar hundert Meter vor dem Park mit dem Gesicht nach unten auf dem Gehsteig liegend gefunden. Seinem Mörder war es offensichtlich gelungen, sich ihm von hinten so weit unbemerkt zu nähern, dass Vega nicht einmal mehr seine Pistole aus dem Hosenbund hatte ziehen können.
Obwohl Vega selbst ein Gangster und Mörder war, hatte das SFPD intensive Anstrengungen unternommen, den Mord an ihm aufzuklären. Es meldete sich jedoch kein Zeuge des tödlichen Schusses, und das einzige Beweismittel, das gefunden wurde, war eine Kugel vom Kaliber .38, die bei der Obduktion aus dem Gehirn des Opfers entfernt wurde. Keine rivalisierende Gang aus der Gegend bekannte sich zu dem Mord, und die Graffiti, die Vegas Tod entweder beklagten oder bejubelten, ließen keine Aufschlüsse