Aber dieses Risiko einzugehen, war sie bereit. Sie hatte keine Angst vor Olivas gehabt, als er ihr auf der Weihnachtsfeier vor drei Jahren ins Bad gefolgt war; sie hatte ihn von sich gestoßen, und er war in eine Badewanne gefallen. Und auch jetzt hatte sie keine Angst vor ihm.
Obwohl die Chronologie das wichtigste Dokument war, um sich Überblick über einen Fall zu verschaffen, nahm sich Ballard als Erstes die Fotos vor. Sie wollte wissen, wie Daisy Clayton ausgesehen hatte, lebendig und tot.
Unter den zahlreichen Tatort- und Obduktionsfotos war auch ein Studioporträt des Mädchens. Sie trug darauf eine weiße Bluse mit dem Monogramm SSA über der linken Brust, die für Ballard nach einer Privatschuluniform aussah. Ihr blondes Haar war halblang, die Akne auf ihren Wangen mit Make-up kaschiert, und obwohl sie in die Kamera lächelte, lag bereits dieser abwesende Pubertätsblick in ihren Augen. Auch die Rückseite des Fotos war gescannt worden. Dort stand: 7. Klasse, St. Stanislaus Academy, Modesto.
Ballard beschloss, die Tatortfotos später anzusehen und sich zunächst mit der Chrono zu befassen. Zuerst scrollte sie zu den letzten Ermittlungsschritten und erfuhr so, dass die Ermittlungen, abgesehen von jährlichen Routinechecks, acht Jahre lang geruht hatten, bis sie vor sechs Monaten einer Cold-Case-Ermittlerin namens Lucia Soto zugeteilt worden waren. Ballard kannte Soto nicht, hatte aber von ihr gehört. Sie war die jüngste Ermittlerin, die je zur RHD versetzt worden war, und hatte Ballards Rekord gebrochen, die bei ihrer Beförderung acht Monate älter gewesen war als Soto.
»Lucky Lucy«, sagte Ballard laut.
Ballard wusste auch, dass Soto zurzeit der Hollywood Sexual Harassment Task Force zugeteilt war, weil die zuständigen Stellen beim LAPD – hauptsächlich weiße Männer – gemerkt hatten, dass es nicht schaden konnte, diese Sondereinheit mit möglichst vielen Frauen zu besetzen. Soto, die wegen eines furchtlosen Einsatzes, der ihr neben ihrem Spitznamen die Beförderung zur RHD eingetragen hatte, in den Medien keine Unbekannte war, musste bei Pressekonferenzen und sonstigen Medienterminen oft als Aushängeschild der Sondereinheit herhalten.
Das gab Ballard zu denken. Sie rechnete rasch zurück. Vor sechs Monaten hatte Soto den ungelösten Fall Daisy Clayton entweder zugeteilt bekommen, oder sie hatte selbst einen Antrag gestellt, ihn bearbeiten zu dürfen. Kurz darauf war sie von der Einheit Offen-Ungelöst zu der Sondereinheit für sexuelle Belästigung versetzt worden. Dann taucht Bosch in der Hollywood Station auf, um sich über den Fall zu erkundigen und sich Einblick in die Akten eines für Sexualdelikte zuständigen Detective zu verschaffen.
Hier bestand eindeutig ein Zusammenhang. Aber wo genau war er zu suchen? Was diese Frage anging, sah Ballard rasch klarer, als sie in der LAPD-Datenbank eine neue Suche startete und alle Fälle aufrief, in denen Bosch als leitender Ermittler aufgeführt war. Dabei konzentrierte sie sich vor allem auf den letzten Fall, den er vor seinem Ausscheiden beim LAPD bearbeitet hatte: eine Brandstiftung in einem Wohnblock, bei der mehrere Kinder infolge einer Rauchvergiftung ums Leben gekommen waren. In mehreren Berichten über diesen Fall wurde Lucia Soto als Boschs Partnerin genannt.
Langsam begann sich für Ballard ein klareres Bild abzuzeichnen. Soto übernimmt den Fall Clayton und zieht ihren früheren Partner Bosch zu den Ermittlungen hinzu, obwohl er nicht mehr beim LAPD ist. Aus welchem Grund? Weshalb holt sich Soto Hilfe von außen, und das, obwohl sie gerade von Offen-Ungelöst zu der Sondereinheit für sexuelle Belästigung versetzt worden ist?
Da diese Frage im Moment nicht zu beantworten war, machte sich Ballard wieder ans Studium der Akte, wobei sie diesmal ganz von vorne begann. Daisy Clayton wurde darin als chronische Ausreißerin dargestellt, die es sowohl zu Hause als auch in den betreuten WGs und Heimen, in denen sie vom Department of Children and Family Services untergebracht worden war, nie lange ausgehalten hatte. Jedes Mal wenn sie ausriss, landete sie auf den Straßen Hollywoods, wo sie sich in Obdachlosenlagern und besetzten leerstehenden Gebäuden anderen Ausreißern anschloss. Sie trank, nahm Drogen und ging auf den Strich.
Mit dem Gesetz war Daisy zum ersten Mal sechzehn Monate vor ihrem Tod in Konflikt gekommen. Dem folgten mehrere weitere Festnahmen wegen Drogendelikten und Prostitution. Aufgrund ihrer Minderjährigkeit wurde sie nach den ersten Festnahmen lediglich zu ihrer alleinerziehenden Mutter Elizabeth oder in entsprechende Einrichtungen für Jugendliche gebracht. Aber das konnte sie nicht davon abhalten, auf die Straße und in die Obhut Adam Sands‘, eines neunzehnjährigen ehemaligen Ausreißers mit einer ähnlichen kriminellen Vorgeschichte, zurückzukehren.
Sands war von den ursprünglichen Ermittlern zwar vernommen, aber von der Liste potentieller Verdächtiger gestrichen worden, als sich sein Alibi bestätigte: Er war zum Zeitpunkt von Daisy Claytons Ermordung in einer Arrestzelle der Hollywood Division festgehalten worden.
Nachdem der Tatverdacht ausgeräumt war, wurde Sands ausführlich zu den Gewohnheiten und Beziehungen des Opfers befragt. Er behauptete zwar, nicht zu wissen, mit wem sie sich in der Mordnacht getroffen hatte, rückte aber zumindest heraus, dass sie sich normalerweise in der Nähe eines Einkaufszentrums am Hollywood Boulevard auf Höhe der Western Avenue herumtrieb, in dem es einen kleinen Supermarkt und einen Liquor Store gab. Dort sprach sie aus diesen Geschäften kommende Männer an, fuhr mit ihnen in eine der Seitenstraßen des Viertels und hatte im Auto Sex mit ihnen. Dabei behielt Sands sie normalerweise im Auge, aber in der fraglichen Nacht hatte er sich in Polizeigewahrsam befunden, weil er zu einer Gerichtsverhandlung wegen eines Drogendelikts nicht erschienen war.
Daisy war sich also selbst überlassen gewesen, und in der darauffolgenden Nacht wurde ihre Leiche in einer der Seitenstraßen entdeckt, in denen sie ihre Freier abfertigte. Sie war nackt, und ihr Körper wies Spuren von sexueller Gewalt und Folter auf und war nach ihrer Ermordung mit Bleichmittel gesäubert worden. Ihre Kleidungsstücke wurden nie gefunden. Den Ermittlungen zufolge lagen zwanzig Stunden zwischen dem Zeitpunkt, zu dem sie auf dem Strich im Einkaufszentrum das letzte Mal gesehen worden war, und dem Moment, als bei der Polizei ein anonymer Anruf einging, dass in einem Müllcontainer in einer Seitenstraße des Cahuenga Boulevard eine Leiche lag, und Officer Dvorek losgeschickt wurde, um der Sache auf den Grund zu gehen. Was in den zwanzig Stunden dazwischen passiert war, konnte nicht rekonstruiert werden, aber der Umstand, dass die Leiche mit Bleichmittel gewaschen worden war, legte den Schluss nahe, dass Daisy an einen unbekannten Ort gebracht, dort missbraucht und ermordet und anschließend gründlich gesäubert worden war, um alle Spuren, die zu ihrem Mörder hätten führen können, zu vernichten.
Der einzige Anhaltspunkt, aus dem die Ermittler jedoch nie schlau geworden waren, war ein Bluterguss an der rechten oberen Hüfte, der dem Opfer nach Ansicht der Detectives vom Mörder beigebracht worden war. Er hatte die Form eines Kreises von etwa fünf Zentimetern Durchmesser mit den kreuzförmig angeordneten Buchstaben A-S-P in der Mitte.
Der Umstand, dass die Buchstaben auf dem Körper der Toten spiegelverkehrt waren, bedeutete, dass sie auf dem Gegenstand, der den Abdruck hinterlassen hatte, richtig herum standen. Der Kreis um die kreuzförmig angeordneten Buchstaben sah wie eine sich selbst in den Schwanz beißende Schlange aus. Die Ränder des Blutergusses waren jedoch so stark verschwommen, dass sich das nicht mit Sicherheit feststellen ließ.
Obwohl viel Zeit und Mühe darauf verwendet wurde, die Bedeutung der Buchstaben zu entschlüsseln, kamen die Ermittler zu keinem eindeutigen Ergebnis. Zunächst waren für den Fall zwei Mordermittler der Hollywood Division zuständig gewesen, doch als Hollywoods berühmte Mordkommission im Zuge der Zusammenlegung in Regionalzentren aufgelöst wurde, bekam die Olympic Division den Fall zugeteilt. Die Hollywood-Detectives waren King und Carswell gewesen, die Ballard beide nicht kannte.
Die Obduktion ergab, dass der Tod des Opfers zehn Stunden nach dem Zeitpunkt eingetreten war, zu dem es das letzte Mal lebend