Night Team. Michael Connelly. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Connelly
Издательство: Bookwire
Серия: Red Eye
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311702191
Скачать книгу
Ballard stellte den Karton neben ihrem Schreibtisch auf den Boden und begann der Reihe nach zehn Zentimeter dicke Packen herauszunehmen. Sie schaute kurz auf beide Seiten jeder Karte und achtete vor allem auf Ort und Zeitpunkt der Kontrolle und ob der Vernommene ein Mann war, bevor sie die weiteren Angaben studierte.

      Für die erste Kiste brauchte sie zwei Stunden. Drei der durchgesehenen Karten legte sie für Bosch beiseite, eine nur für sich selbst. Die Filzkarten bestätigten sie wieder in ihrer Überzeugung, dass Hollywood ein Sammelbecken für Freaks und Loser war, die auf der Suche nach Möglichkeiten, an Geld zu kommen, ziellos durch die Stadt streiften. Bei vielen, die von auswärts kamen und Drogen oder Sex kaufen wollten, dienten die Polizeikontrollen dem Zweck, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Bei den Dauerbewohnern der Straßen Hollywoods – egal ob Räuber oder Beutetiere – war jedoch keine Bereitschaft zur Änderung ihres Lebensstils mehr erkennbar.

      Zugleich erfuhr Ballard aus den Filzkarten auch etwas über die Cops, die diese Kontrollen durchgeführt hatten. Manche neigten zu sprachlichen Ausuferungen, andere waren grammatikalisch deutlich überfordert, und wieder andere griffen bei der Beschreibung der Kontrollierten auf Codes wie Adam Henry (Arschloch) zurück. Nicht wenige hatten ganz offensichtlich keine Lust, die Karten auszufüllen, und beschränkten sich bei ihren Angaben auf ein Minimum. Manche schafften es allerdings auch, trotz der Begleitumstände ihrer Tätigkeit und der damit einhergehenden düsteren Weltsicht, ihren Humor nicht zu verlieren.

      Die aufschlussreichsten Informationen waren auf den unbedruckten Rückseiten der Karten zu finden, und Ballard las mit fast anthropologischem Interesse, was diese Mini-Protokolle über Hollywood und die Gesellschaft als Ganzes verrieten. Eine Karte legte sie nur deshalb für sich beiseite, weil ihr gefiel, was der Officer darauf geschrieben hatte.

      Subjekt ist ein menschlicher Steppenläufer

      Lässt sich vom Wind treiben

      Wird morgen weggeweht werden

      Niemand wird ihn vermissen

      Der Verfasser dieser Karte hieß T. Farmer, und Ballard ertappte sich dabei, dass sie nach seinen Filzkarten Ausschau hielt, um mehr seiner elegischen Vernehmungsprotokolle zu lesen.

      Die drei Karten, die sie für eine weitere Überprüfung durch Bosch beiseitegelegt hatte, betrafen lauter weiße Männer, die von den Polizisten als »Touristen« eingestuft wurden, die nur mal vorbeischauen wollten. Das hieß, sie waren von auswärts und kamen nach Hollywood, weil sie etwas suchten, was im Fall dieser drei Männer höchstwahrscheinlich Sex war. Sie hatten keine Straftat begangen, als sie angehalten und kontrolliert wurden, weshalb die Officers in ihren Äußerungen sehr zurückhaltend waren. Ort, Zeitpunkt und Grundtenor der Vernehmungen ließen jedoch keinen Zweifel daran, dass die Männer nach Auffassung der Polizisten nach Bordsteinschwalben Ausschau hielten. Ein Mann war zu Fuß unterwegs, einer in einem Pkw und der dritte in einem beruflich genutzten Transporter. Ballard hatte vor, ihre Namen und Kfz-Kennzeichen in die einschlägigen Polizeidatenbanken einzugeben, um zu sehen, ob dort vielleicht irgendwelche Vorstrafen oder Aktivitäten vermerkt waren, die eine eingehendere Überprüfung dieser Männer nahelegten.

      Sie war gerade mit der ersten Hälfte der zweiten Kiste durch, als Punkt Mitternacht ihr Funkgerät zu quäken begann. Es war Lieutenant Munroe.

      »Ich habe Sie beim Appell vermisst, Ballard.«

      Sie war nicht verpflichtet, zum Appell zu erscheinen, aber sie nahm so oft daran teil, dass auffiel, wenn sie es nicht tat.

      »Sorry, L.T., aber ich bin grade an was dran und habe nicht auf die Zeit geachtet. Irgendwas Wichtiges, was ich wissen sollte?«

      »Nein, bisher alles ruhig. Aber Ihre neue Flamme ist wieder hier. Soll ich ihn zu Ihnen schicken?«

      Ballard zögerte, bevor sie das Mikro einschaltete und antwortete. Sie nahm an, dass ihr Besucher Bosch war. Sich zu beschweren, dass Munroe ihn ihre Flamme nannte, wäre reine Zeitverschwendung und würde sie mehr kosten, als es ihr brachte.

      Sie aktivierte das Mikro.

      »Ich bin nicht im Bereitschaftsraum. Sagen Sie meiner ›Flamme‹, er soll bei Ihnen bleiben. Ich komme ihn holen.«

      »Alles klar.«

      »Übrigens, L.T. Gibt es in Hollywood einen Streifenpolizisten, der T. Farmer heißt?«

      Wenn Farmer noch bei der Hollywood Division war, arbeitete er inzwischen sicher in der Tagschicht. Von der Nachtschicht kannte sie jeden.

      Es dauerte eine Weile, bis Munroe antwortete.

      »Nicht mehr. Er ist EDS gegangen, als Sie hier angefangen haben.«

      Ende der Schicht, EDS. Plötzlich fiel Ballard wieder ein, dass die Division den Tod eines ihrer Officers betrauert hatte, als sie vor drei Jahren nach Hollywood versetzt worden war. Ein Selbstmord. Jetzt wurde ihr klar, dass es Farmer gewesen war.

      Ballard spürte einen unsichtbaren Schlag gegen die Brust. Sie drückte auf die Mikrotaste.

      »Verstehe.«

      9

      Ballard beschloss, die Durchsicht der Filzkarten möglichst in der Nähe der Quelle vorzunehmen. Sie brachte Bosch in die Abstellkammer und platzierte ihn an einem der alten Schreibtische. Hier war die Wahrscheinlichkeit geringer, dass ihn einer ihrer Kollegen mit ihr arbeiten sah und Fragen stellte. Sie rief Lieutenant Munroe auf seiner Durchwahl an und sagte ihm, wo sie war, falls sie gebraucht würde.

      Bosch und Ballard beschlossen, sich die Karten aufzuteilen, und Bosch verzichtete darauf, die von Ballard bereits durchgesehenen Karten noch einmal zu lesen. Es war das erste Anzeichen, dass sie einander vertrauten und sich auf die Einschätzungen des anderen verließen. Außerdem beschleunigte es das Verfahren.

      Ballards Schreibtisch war im rechten Winkel an den von Bosch geschoben, sodass sie ihn direkt vor sich hatte, wohingegen er sich zur Seite drehen musste, um sie zu beobachten, und das deshalb nicht so unauffällig tun konnte wie sie. Sie behielt ihn verstohlen im Auge und stellte fest, dass er anders vorging als sie. Er sortierte wesentlich schneller Karten zur weiteren Begutachtung aus als sie. Irgendwann merkte er, dass sie ihn beobachtete.

      »Keine Angst«, sagte er, ohne von seiner Tätigkeit aufzublicken. »Ich gehe in zwei Schritten vor. Zuerst ein grobmaschiges Netz, dann ein engmaschigeres.«

      Ballard nickte nur. Es war ihr ein wenig peinlich, dass Bosch sie ertappt hatte.

      Bald wendete auch sie Boschs Methode an und achtete nicht mehr auf ihn, denn sie merkte, dass sie so wesentlich schneller vorankam. Nach längerem Schweigen legte Ballard einen dicken Packen Karten auf den Haufen mit den uninteressanten und sagte: »Darf ich Sie was fragen?«

      »Und wenn ich Nein sage?«, antwortete Bosch. »Sie würden doch trotzdem fragen.«

      »Wie ist es dazu gekommen, dass Daisys Mutter bei Ihnen wohnt?«

      »Das ist eine lange Geschichte. Sie musste irgendwo unterkommen, und ich hatte ein Zimmer frei.«

      »Sie haben also kein erotisches Interesse an ihr?«

      »Nein.«

      »Aber Sie lassen diese Fremde bei sich wohnen.«

      »Gewissermaßen. Ich habe sie in Zusammenhang mit einem anderen Fall kennengelernt, der mit diesem nichts zu tun hat. Ich habe ihr aus der Klemme geholfen und dabei von der Geschichte mit Daisy erfahren. Ich habe ihr versprochen, mich mit der Sache zu befassen, und ihr für die Dauer meiner Ermittlungen das Zimmer angeboten. Sie ist aus Modesto. Ich gehe davon aus, dass ich mein Zimmer zurückbekomme und sie wieder nach Modesto zieht, wenn wir das hier aufgeklärt haben.«

      »Wenn Sie noch beim LAPD wären, könnten Sie das nicht tun.«

      »Es gibt vieles, was ich nicht tun könnte, wenn ich noch beim LAPD wäre. Aber das bin ich ja auch nicht mehr.«

      Sie konzentrierten sich wieder auf die Karten, aber Ballard hakte fast sofort nach: »Trotzdem würde ich gern mit ihr reden.«

      »Ich