Zwanzig Minuten später hatte sie zwölf solcher Boxen mit Filzkarten auf den Flur hinausgebracht und an der Wand aufgereiht. Sie entnahm jeder ein paar Karten und vergewisserte sich, dass sie aus dem Zeitraum zwischen 2006 und 2010 stammten, als mit der digitalen Speicherung begonnen beziehungsweise die Mordkommission der Hollywood Division aufgelöst worden war.
Ballard schätzte, dass jede Kiste etwa eintausend Karten enthielt. Alle durchzusehen würde Stunden dauern. Hatte Bosch das vor, oder suchte er nach einer speziellen Karte oder einer bestimmten Nacht? Zum Beispiel nach der, in der Daisy Clayton entführt worden war?
Diese Frage konnte ihr nur Bosch beantworten.
Sie legte auf die Kisten im Flur einen Zettel, auf dem stand, dass sie für sie waren. Dann ging sie zu ihrem Transporter auf den Parkplatz hinaus, überprüfte den Sitz der Boards auf dem Dachgepäckträger und stieg ein. Als kurz nach ihrer Versetzung zur Hollywood Division durchgesickert war, dass sie ein internes Ermittlungsverfahren wegen sexueller Belästigung angestrengt hatte, war das nicht bei jedem in der Station gut angekommen. Manche hatten sie das mit den üblichen Formen von Mobbing spüren lassen, andere mit etwas drastischeren Maßnahmen. Als sie eines Morgens nach Schichtende am elektronischen Tor des Parkplatzes anhielt, rutschte das SUP-Board vom Dach und krachte mit seiner Nose mit solcher Wucht gegen das Tor, dass das Fiberglas splitterte. Sie reparierte den Schaden selbst und machte es sich von da an zur Gewohnheit, jeden Morgen nach ihrer Schicht den Sitz der Haltegurte zu überprüfen.
Sie fuhr auf der La Brea zum Freeway 10 und dann in Richtung Westen zum Strand. Sie wartete bis kurz nach acht Uhr, bevor sie die Nummer der RHD wählte, die sie immer noch im Handy gespeichert hatte, und nach Lucy Soto verlangte. Sie sagte den Namen mit einer abgehackten Vertrautheit, die den Eindruck erwecken sollte, dass es sich dabei um ein Telefonat von Cop zu Cop handelte. Sie wurde anstandslos durchgestellt.
»Detective Soto.«
»Hier Detective Ballard, Hollywood Division.«
Darauf trat eine kurze Pause ein, bevor Soto sagte: »Ich weiß, wer Sie sind. Was kann ich für Sie tun, Detective Ballard?«
Ballard war es gewöhnt, dass Detectives wussten, wer sie war, auch wenn sie sie nicht persönlich kannten. Bei weiblichen Detectives kam es dann immer zu einem Moment der Ungewissheit. Entweder bewunderten sie Ballard für ihre Standhaftigkeit, oder sie hielten ihr vor, dass sie ihnen mit ihrem Verhalten das Leben schwerer gemacht hatte. Ballard versuchte dann immer erst herauszufinden, was davon der Fall war, aber Sotos Bemerkung ließ keine Rückschlüsse zu, welchem Lager sie angehörte. Dass sie Ballards Namen noch einmal laut gesagt hatte, könnte dem Zweck gedient haben, einer zweiten Person, einem Partner oder einem Vorgesetzten ihrer Sondereinheit zu erkennen zu geben, mit wem sie telefonierte.
Da Ballard Soto noch nicht einschätzen konnte, fuhr sie einfach fort.
»Ich mache hier die Nachtschicht. In manchen Nächten habe ich ordentlich zu tun, in anderen ist es eher ruhig. Damit ich nicht einroste, sieht es mein L.T. deshalb ganz gern, wenn ich an einem Hobbyfall arbeite.«
»Alles schön und gut«, sagte Soto. »Aber was hat das mit mir zu tun. Ich stecke hier gerade mitten …«
»Schon klar, dass Sie ordentlich zu tun haben. Sie sind ja auch bei der Sondereinheit für sexuelle Belästigung. Deshalb rufe ich auch an. Es geht um einen Ihrer alten Fälle, mit dem Sie sich wegen der Sondereinheit nicht mehr weiter befassen können … Dürfte ich mich vielleicht daran versuchen?«
»Welcher Fall soll das sein?«
»Daisy Clayton. Eine Fünfzehnjährige, die hier oben …«
»Ich weiß, welchen Sie meinen. Warum interessieren Sie sich dafür?«
»Hier war das damals ein wichtiger Fall. Ich habe ein paar Streifenpolizisten darüber reden hören und mir im Computer alles angesehen, was ich darüber finden konnte, und irgendwie habe ich Feuer gefangen. Außerdem hat es so ausgesehen, als ob Sie wegen der Sondereinheit im Moment nicht viel Zeit dafür hätten.«
»Und deshalb wollen Sie sich der Sache annehmen.«
»Versprechen kann ich natürlich nichts, aber doch, ich würde der Sache gern nachgehen. Selbstverständlich würde ich Sie auf dem Laufenden halten. Es ist immer noch Ihr Fall. Ich würde nur ein bisschen Klinken putzen gehen.«
Ballard war inzwischen auf dem Freeway, kam aber nicht voran. Weil sie im Lager die Kisten mit den alten Akten durchforstet hatte, war sie mitten in den Berufsverkehr geraten. Außerdem dürfte am Strand die Morgenbrise inzwischen so stark aufgefrischt haben, dass sie gegen den Wind und den deutlich höheren Wellengang anpaddeln müsste. Sie hatte ihr Zeitfenster verpasst.
»Das ist jetzt neun Jahre her«, sagte Soto. »Ich weiß nicht, ob sich da noch jemand an was erinnern kann. Vor allem in der Nachtschicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass bei der Sache was rauskommt.«
»Schon möglich«, sagte Ballard. »Aber es ist meine Zeit, die ich damit verplempere. Sind Sie damit einverstanden oder nicht?«
Darauf trat wieder längeres Schweigen ein. Währenddessen war Ballard mit ihrem Transporter zwei Meter vorangekommen.
»Da ist etwas, was Sie wissen sollten«, sagte Soto schließlich. »Es gibt noch jemand, der sich der Sache annimmt. Jemand, der nicht beim LAPD ist.«
»Ja? Wer?«
»Mein alter Partner. Er heißt Harry Bosch. Inzwischen ist er pensioniert, aber er … er braucht die Arbeit.«
»Ach, einer von denen? Okay. Sonst noch was, das ich wissen sollte? War es einer von seinen Fällen?«
»Nein. Aber er kennt die Mutter des Opfers. Er macht es für sie. Und wenn er sich mal in was verbissen hat …«
»Verstehe.«
Allmählich begann Ballard klarer zu sehen. Das war auch der eigentliche Zweck ihres Anrufs gewesen. Ob sie die Erlaubnis erhielt, an dem Fall zu arbeiten, war die geringste ihrer Sorgen.
»Wenn ich auf irgendwas stoße, gebe ich Ihnen Bescheid«, sagte sie. »Aber jetzt will ich Sie nicht mehr länger von der Arbeit abhalten.«
Ballard glaubte, ein unterdrücktes Lachen zu hören.
»Übrigens, Ballard?«, fügte Soto dann leise hinzu. »Wenn ich vorhin gesagt habe, dass ich weiß, wer Sie sind, sollte ich vielleicht hinzufügen, dass ich auch weiß, wer Olivas ist. Immerhin arbeite ich für ihn. Deshalb, nur damit Sie’s wissen: Ich finde gut, was Sie getan haben, und ich weiß, welchen Preis Sie dafür bezahlt haben.«
Ballard nickte sich selbst zu.
»Gut zu wissen. Sie hören von mir.«
BOSCH
5
Das alte Gefängnis, in dem Bosch sein Aktenstudium betrieb, war nur ein paar hundert Meter vom San Fernando Courthouse entfernt. Beschwingt von dem Durchsuchungsbeschluss in seiner Hand, hatte er den kurzen Weg dorthin rasch zurückgelegt. Judge Atticus Finch Landry hatte seinen Antrag im Richterzimmer gelesen und ihm ein paar routinemäßige Fragen dazu gestellt, bevor er ihn unterzeichnet hatte. Jetzt war Bosch befugt, die Durchsuchung durchzuführen und dabei, so hoffte er, die Kugel zu finden, die zu einer Festnahme und zum Abschluss eines weiteren Ermittlungsverfahrens führen würde.
Er nahm die Abkürzung, die durch den Bauhof zum Hintereingang des alten Gefängnisses führte, und fummelte den Schlüssel für das Vorhängeschloss der ehemaligen Ausnüchterungszelle heraus, in der auf Metallregalen die Akten für die Cold Cases gelagert waren. Als er merkte, dass er das Schloss offen gelassen hatte, machte er sich stumme Vorhaltungen. Es war ein Verstoß gegen seine Vorschriften und gegen die des LAPD. Die Akten mussten immer unter Verschluss bleiben. Deshalb sicherte er aus Prinzip sogar dann alles auf seinem Schreibtisch, wenn er nur vierzig Minuten ins Gericht ging, um sich einen Durchsuchungsbeschluss