Doch Hannes wird es packen. Um den Jungen müssen wir uns keine Sorge machen. Und wie heißt es doch so schön? Wenn eine Tür sich schließt, dann öffnet sich eine andere. Das ist ein Satz, den ich voll unterschreiben kann. So war es in unserem Leben auch, es war voller Brüche, Veränderungen. Wir sind nicht daran zerbrochen, es hat uns stark gemacht. Man lernt, mit Krisen umzugehen, wenn man sich nicht in sein eigenes Elend hineinsteigert, jammert und glaubt, vom Schicksal benachteiligt zu sein. Wir haben alle unser vorbestimmtes Leben, den einen Menschen trifft es mehr, den anderen weniger. Und viel Geld zu besitzen, das ist, weiß Gott, kein Allheilmittel. Hannes ist aus dem richtigen Holz geschnitzt, er ist ein großartiger junger Mann, und wer weiß, welche Chancen sich ihm noch eröffnen. Er ist jung, die Welt steht ihm offen.«
Teresa blickte ihre Tochter an. »Inge, mach kein so sorgenvolles Gesicht, alles wird gut. Du könntest durchaus auch ein wenig optimistischer sein. Das kann niemals schaden. So, wenn es das war, dann können wir uns jetzt dem geselligen Teil zuwenden. Jetzt würde ich gern einen Kaffee trinken, und gegen ein Stück Kuchen hätte ich ebenfalls überhaupt nichts einzuwenden.«
Inge sprang auf, rannte zu ihrer Kaffeemaschine, Kaffee …
Sie kam sich vor wie eine Verdurstende, die lange durch die Wüste gelaufen war und nun mit allerletzter Kraft die rettende Oase erreicht hatte.
Ihre Eltern wussten es also, und sie hatten sich nicht dazu geäußert. Wäre das bloß geschehen, das hätte bei ihr manch schlaflose Nacht verhindert. Aber Hannes und die Großeltern, die waren eine verschworene Gemeinschaft, ebenso wie Pamela und Omi und Opi. Es war auch nicht anders mit Ricky und Jörg.
Großeltern waren abgeklärter, sie befanden sich auf einer Einbahnstraße und hatten längst erkannt, dass das Leben viel zu kurz war, um es sich schwer zu machen. Im Alter wurde man nachsichtiger, einsichtiger, toleranter.
Inge wirbelte herum.
»Mama, ich gehe mal davon aus, dass Pam längst eingeweiht ist, und auch Ricky und Jörg wissen es mittlerweile. Dann ist es ja nur noch Werner, der ahnungslos ist oder nichts weiß.«
Werner war unvermittelt in den Raum gekommen, sofort erkundigte er sich: »Wovon weiß ich nichts?«
Inge wünschte sich, der Erdboden möge sich auftun, sie verschlingen.
Inge konnte sich mit nichts entschuldigen. Sie hätte es ihrem Ehemann längst erzählen können. Sie hatte es nicht getan. Diese Situation jetzt war wieder einmal das Resultat einer verpassten Möglichkeit. Die Vergangenheit holte sie ein. Es war wie damals, ein Déjà vù. Es nahm ihr beinahe den Atem. Sie schloss die Augen. Werner und sie hatten niemals den richtigen Zeitpunkt gefunden, Pamela zu erzählen, dass sie adoptiert worden war. Sie waren für ihre Feigheit, für ihre Nachlässigkeit bestraft worden. Etwas, was sie stets verhindern wollten, war eingetreten.
Pamela hatte es ganz zufällig und ganz nebenbei von klatschsüchtigen fremden Frauen erfahren, dass man sie adoptiert hatte. Pamelas Welt war zusammengebrochen, und das hätte beinahe ihre Familie zerstört.
Was würde nun passieren? Wie würde Werner reagieren?
Inge war einfach nicht in der Lage, jetzt etwas zu sagen. Sie dankte dem Himmel, dass ihre Mutter cool genug war, es Werner zu erzählen, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, was sich da im Leben seines jüngsten Sohnen ereignet hatte.
Werner sagte nichts. Er nahm es erst einmal wortlos zur Kenntnis, doch Inge kannte ihren Ehemann lange und gut genug, um zu sehen, wie es in ihm arbeitete.
Werner rührte den Kaffee nicht an, den Inge vor ihn hingestellt hatte, und den Kuchenteller schob er sogar beiseite. Das war kein gutes Zeichen, das war überhaupt nicht gut, denn Werner liebte Kuchen über alles.
Bei Teresa war es ganz anders. Die genoss Kaffee und Kuchen. Sah sie nicht, wie durch den Wind Werner war, oder wollte sie es nicht sehen? Anzumerken war ihr nichts.
Inge brauchte jetzt erst einmal ihren starken schwarzen Kaffee, sonst konnte sie überhaupt keinen klaren Gedanken fassen. So war es immer bei ihr, obwohl sie längst wusste, dass sie sich da etwas vormachte. Sie warf Werner einen vorsichtigen Blick von der Seite zu.
Warum sagte er nichts?
Das jetzt im Raum lastende Schweigen wurde immer schwerer, Inge hatte das Gefühl zu ersticken.
Warum hatte sie nur so lange geschwiegen?
Warum hatte sie nicht längst Werner alles erzählt?
Jetzt hatte sie die Quittung, jetzt holte es sie ein!
Sie wusste, dass alles, was sie sich jetzt vorwarf, nichts brachte. Es war zu spät. Sie hätte früher den Mund aufmachen müssen!
Teresa schien nichts von allem bewusst zu sein. Sie trank ihren Kaffee, lobte den Kuchen, von dem sie unbedingt gleich ein Stück für ihren Magnus mitnehmen wollte.
Vielleicht versuchte Teresa, mit einem derartigen Verhalten so etwas wie Normalität herzustellen. Inge wurde auf jeden Fall das Gefühl nicht los, dass ihre Mutter damit genau das Gegenteil erreichte. Doch das konnte auch nur ihre subjektive Meinung sein.
Endlich brach Werner das Schweigen!
»Bei Hannes hat sich grundlegend etwas verändert. Alle waren darüber informiert, bis auf mich. Ich wusste bis eben nichts davon. Habt ihr vergessen, dass ich der Vater bin?« Seine Stimme klang anklagend, auch ein wenig beleidigt. Inge war nicht in der Lage, dazu jetzt etwas zu sagen. Zum Glück rettete ihre Mutter die Situation. Sie und Werner verstanden sich ganz ausgezeichnet. Sie schätzten einander sehr, auch wenn sie nicht immer einer Meinung waren. Für Teresa war Werner nicht der bekannte, überaus geschätzte Professor Werner Auerbach, sondern er war ihr Schwiegersohn, der Ehemann ihrer einzigen Tochter Inge, vor dem musste sie nicht vor lauter Ehrfurcht versinken. Wenn sie ihm etwas zu sagen hatte, dann tat sie das auch, ohne ein Läppchen vor den Mund zu nehmen.
»Ja, es ist zutreffend, mein lieber Werner, du bist der Vater«, bestätigte Teresa, »doch du darfst nicht vergessen, dass Hannes volljährig ist. Er kann entscheiden, wem er was sagen will. Er hat sich entschieden, dich zunächst einmal nicht einzuweihen, das zu tun, hat er Inge überlassen.«
»Und das hielt meine liebe Frau nicht für nötig«, jetzt klang seine Stimme bitter, auch wirklich ein wenig beleidigt. Der Herr Professor war es nicht gewohnt, hintenan gestellt zu werden. Er blickte Inge anklagend an. »Wann hättest du es mir denn erzählt, Inge? Überhaupt nicht? Dann kann ich ja von Glück reden, dass ich rechtzeitig genug in die Küche gekommen bin, um mitzubekommen, was da hinter meinem Rücken geschieht.«
Werner gefiel sich in der Rolle des Hintergangenen, und Inge war noch so sehr von ihrem schlechten Gewissen geplagt, dass sie wie gelähmt war.
Sah Teresa, dass von ihrer Tochter jetzt keine Erklärung kommen würde?
»Werner, Hannes hat dir nichts gesagt, weil er dich kennt, dich und deine Ansprüche an ihn. Du hättest doch direkt wieder damit angefangen, dass Hannes endlich studieren, eine akademische Laufbahn einschlagen sollte. Das wollte er vermeiden. Hannes muss sich erst einmal sortieren, er muss herausfinden, wie sein Weg weitergehen soll.«
»Und um das herauszufinden, muss er den Jakobsweg gehen, da kommt ihm die Erleuchtung«, bemerkte Werner. »Du liebe Güte, das ist eine Modeerscheinung. Es ist derzeit chic, den Weg zu laufen, seit so ein Schauspieler oder was auch immer dieser Mann ist, ein Buch darüber geschrieben hat, mit dem er sehr viel Geld verdiente. Und noch verdient, weil es immer neue Auflagen gibt. Um intensiv nachzudenken, da reicht es, um unseren wunderschönen Sternsee zu laufen. Es ist gewiss traurig für Hannes, dass sich der Traum von einem Leben in Australien zerschlagen hat. Vielleicht ist es ja auch überhaupt kein Fluch, sondern ein Segen.
Hannes hat, weiß Gott, mehr in seinem Kopf, als nur zu tauchen, zu surfen und dieses Surfbrett