»Und nun gehe ich, und begleite mich bitte nicht zur Tür, denn ich kenne uns, dort werden wir kein Ende finden, und ganz besonders ich werde dir eine Frikadelle ans Knie reden, weil mir immer wieder etwas einfällt. Ich melde mich, und danke noch mal, es geht mir besser.«
Nach diesen Worten stürmte sie davon, ehe Roberta etwas sagen konnte.
In gewisser Hinsicht hatte Nicki recht, sie hatten sich in der Tat immer wieder etwas zu sagen und konnten kein Ende finden.
Außerdem hätte Roberta ihrer Freundin wirklich keinen Ratschlag geben, den Nicki ohnehin nicht befolgen würde.
Peter Bredenbrock und seine Kinder waren erst einmal weg, die Zeit würde es zeigen, ob oder was weitergehen würde.
*
Nachdem ihre Freundin gegangen war, zwang Roberta sich regelrecht, nicht mehr an die geführte Unterhaltung zu denken, auch nicht an Lars. Manche Dinge ließen sich nicht ändern, und wenn man sich immer wieder damit beschäftigte, machte man eine Sache nicht besser.
Um sich abzulenken, da half Roberta nur eines, und das war, sich in die Arbeit zu stürzen. Das lenkte sie ab, weil sie dann hochkonzentriert war und keine anderen Gedanken zuließ.
Und um sich Krankenakten zu holen, da musste sie nicht erst in ihre Praxis gehen, was auch kein Beinbruch wäre, da die ja direkt nebenan war. Nein, sie hatte immer ein paar Fälle in ihrer Privatwohnung von Patienten, die eine schwierige Krankengeschichte hatten oder von Fällen, die sie interessierten.
Sie griff zur nächstbesten Akte, seufzte.
Eine Patientin hatte ihre Tochter mit in die Praxis gebracht, in der Hoffnung, sie könne etwas für Maritta tun.
Es war bitter, dass Roberta nur die Diagnosen der Kollegen bestätigen konnte, die Mutter und Tochter vorher bereits aufgesucht hatten.
Maritta war eine klassische Borderlinerin, das waren Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung. Borderline-Patienten fehlte die Fähigkeit, ihre Gefühle richtig zu regulieren, sie neigten unter anderem dazu, sich in Stresssituationen selbst zu verletzen. Man musste sich nur Marittas Arme ansehen, dann wusste man Bescheid, Maritta ritzte. Eigentlich war sie nicht die richtige Ansprechpartnerin für die Patientin, doch die Mutter wollte partout nicht zu einem Kollegen gehen, der für solche Störungen qualifiziert war. Mutter und Tochter waren, was die Krankheit betrat, in eine Sprachlosigkeit verfallen, sie steckten den Kopf in den Sand.
Was Borderline betraf, war Roberta nicht unwissend, aber sie war …
Sie blickte von ihrer Krankenakte auf, weil in diesem Augenblick Alma in den Raum kam.
»Frau Doktor, ich bin dann so weit und mache mich mal auf den Weg. Für heute Mittag steht für Sie der Salat mit der gebratenen Hühnerbrust im Kühlschrank, und heute Abend möchten Sie ja in den ›Seeblick‹ gehen. Und morgen bin ich wieder da.«
»Alma, ich wünsche Ihnen bei der Silberhochzeit Ihrer Freundin viel Spaß. Es ist eine schöne Idee, die Gäste auch in dem Gasthof übernachten zu lassen, in dem die Feier stattfindet.«
Das bestätigte Alma und fügte hinzu: »Fünfundzwanzig Jahre, das ist eine ganz schön lange Zeit. Und Edith und ihr Mann sind wirklich glücklich miteinander. Sie sind zu beneiden, meine Ehe lag schon lange vor der Zeit in Trümmern.«
»Alma, trösten Sie sich, meine auch. Und wenn man der Statistik glauben kann, dann sind wir keine Einzelfälle. Die Leute gehen heute viel früher auseinander.«
»Oder sie heiraten gar nicht erst, sondern leben so zusammen, auch wenn sie Kinder haben. Vielleicht ist das gar nicht so dumm, dann kann man leichter auseinander gehen.«
»Nicht, wenn man für den Partner Kreditverträge unterschrieben hat, wie Sie es taten, Alma. Und wenn ich an meinen Exmann denke, der hätte auch ohne Ehering versucht, sich alles unter den Nagel zu reißen. Doch über unsere Vergangenheit müssen wir jetzt wirklich nicht reden. Da werden wir beide nur traurig, und das müssen Sie jetzt nicht sein, freuen Sie sich auf das Fest, freuen Sie sich an dem Glück eines Paares, das es geschafft hat. Sie sehen übrigens ganz toll aus, Alma, dieses taubenblaue Kleid steht Ihnen ganz hervorragend, Sie sollten sich öfters mal etwas in dieser Farbe kaufen, die Ihre Augen so richtig leuchten lässt.«
Alma wurde rot vor lauter Freude, doch eines hatte sie mit ihrer Chefin gemeinsam, sie konnte nicht mit Komplimenten umgehen, die machten sie verlegen. Also verabschiedete Alma sich, und Roberta wollte sich ihrer Krankenakte wieder zuwenden, als Alma zurückkam.
»Haben Sie etwas vergessen, Alma?«, erkundigte Roberta sich.
»Nein, äh …, in der Diele steht ein ziemlich großer Karton. Soll ich Ihnen den hereinbringen, oder soll er dort stehen bleiben.«
Der Karton, den Nicki mit ins Haus gebracht hatte, den hatte sie vollkommen vergessen.
Roberta sprang auf.
»Lassen Sie mal, Alma, danke. Ich kümmere mich darum.«
Nun ging Alma endgültig, doch es dauerte noch eine Weile, ehe Roberta, beinahe ein wenig lustlos, in die Diele ging.
Es konnte nichts Wichtiges drin sein, sie vermutete, irgendein Demonstrationsobjekt eines Arzneimittelherstellers, und weil die Praxis heute geschlossen war, hatte man den Karton versucht an ihrer privaten Tür abzugeben.
Weil sie die Tür nicht geöffnet hatte und Nicki gerade gekommen war, hatte die den Karton ins Haus geschleppt.
Nachsehen konnte sie ja mal, was in dem Karton steckte.
Sie schleppte ihn in die Küche, stellte ihn auf einen Stuhl, dann griff sie nach einem scharfen Messer und öffnete ihn.
Und dann …
Sie konnte kaum glauben, was sie da sah, der ganze Karton war gefüllt mit roten Rosen, ganz oben lag ein Brief, auf dem ihr Name stand.
Sie kannte diese ausgeprägte, schöne Handschrift.
Jetzt musste Roberta sich erst einmal hinsetzen, weil ihre Beine ihr sonst den Dienst versagt hätten, ihr Herz begann stürmisch zu klopfen, ihr Blutdruck stieg.
Der Brief war von Lars …
Und demzufolge die wunderschönen roten Rosen ebenfalls!
Nach ihrer ersten Auseinandersetzung, an die sie sich am besten nicht erinnern wollte, war er gegangen. Und sie hatte fest geglaubt, dass sie ihn niemals mehr wiedersehen würde, dass es aus mit ihnen war.
Und nun das!
Roberta stand auf, doch ehe sie nach dem Brief griff, musste sie erst einmal ein Glas Wasser trinken, weil sie einen ganz trockenen Hals hatte.
Sie nahm den Brief, setzte sich wieder, zögerte. Dabei konnte doch nichts Schlimmes drinstehen, denn wenn man Schluss machen wollte, dann schickte man keine roten Rosen. Rote Rosen standen für Liebe, für Leidenschaft, sie waren ein Versprechen, ach, man konnte in rote Rosen so vieles hineininterpretieren, und sie motivierten Dichter.
Mit zitternden Fingern riss Roberta den länglichen, cremefarbenen Umschlag aus feinstem Büttenpapier auf.
Sie war so aufgeregt, dass sie noch eine Weile brauchte, den ebenfalls cremefarbenen Brief herauszuziehen.
Endlich war sie dazu in der Lage, sie faltete ihn auseinander, schloss die Augen, dann begann sie zu lesen: »Meine Liebste, ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass ich Dich noch so nennen darf. Es war dumm von mir, einfach zu gehen, denn durch diese törichte Handlung habe ich uns um Tage