„Starren Sie ihn nicht so an, sondern machen Sie, dass Sie zurück an Ihren Platz kommen.“ Der raue Ton des Beamten ließ sie zusammenzucken.
„Ja, Sir“, erwiderte die Frau und zuckte kurz mit den Schultern, als versuchte sie, sich damit bei Quinn zu entschuldigen, bevor sie in die Untiefen des Gebäudes zurückkehrte.
Quinn unterdrückte ein Stöhnen. Im Gegensatz zu dem ungehobelten Mr Churl schien Ms Holmes sehr sympathisch zu sein. Wenn er doch bloß allein mit ihr sprechen könnte! Sicher konnte er sie davon überzeugen, ihm die Informationen zu geben, nach denen er so verzweifelt suchte. Doch unglücklicherweise machte Mr Churl wohl niemals eine Pause von seiner Arbeit.
„Bitte, Sir“, flehte Quinn und legte die abgegriffene Fotografie, auf der alle seine Geschwister zu sehen waren und die Quinn stets bei sich trug, vor dem Mann auf den Schalter. Vielleicht gelang es den süßen Gesichtern von Becky, Cecil und Harry, ihn umzustimmen. „Ich habe einen sehr weiten Weg auf mich genommen, um meine Familie zu finden. Es würde mir – und meiner kranken Mutter – alles bedeuten, herauszufinden, wo sie sind und wie es ihnen geht. Bitte helfen Sie mir dabei!“ An diesem Punkt war es Quinn gleich, dass er geradezu bettelte.
Der Beamte warf widerwillig einen Blick auf die Fotografie und seine Hand hielt über dem Kassenbuch inne. Dann räusperte er sich, stellte den Füllfederhalter ins Tintenfass und atmete laut aus. „Mr Aspinall, es ist nicht so, als hätte ich kein Verständnis für Ihr Anliegen. Doch soweit ich informiert bin, wurden die Kinder, die mit Dr. Barnardos Organisation hierhergekommen sind und keine Waisen waren, von ihren Eltern verlassen. Damit wurde jedes Recht auf die Kinder abgetreten. Sie können also auf keinen Fall etwas an der Unterbringung Ihrer Geschwister verändern. Sie sind vertraglich gebunden! Und deshalb werden ihre Arbeitgeber es auch nicht gern sehen, wenn jemand aus der Familie den Kontakt zu ihnen sucht oder gar probiert, sie zurück nach Hause zu locken.“
„Das verstehe ich, Sir.“ Von diesen kleinen Informationsfetzen ermutigt, beugte Quinn sich nach vorn und sah dem Beamten in die Augen. „Und ich versichere Ihnen: Ich möchte mich nur vergewissern, dass sie gesund und zufrieden sind, damit ich das auch unserer Mutter erzählen kann.“
O Herr, bitte vergib mir diese Flunkerei.
Als Quinn erfahren hatte, dass seine Geschwister ohne die Zustimmung seiner Mutter nach Kanada geschickt worden waren, hatte er geschworen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Cecil, Becky und Harry wieder nach Hause zu holen. Wo sie hingehörten!
Das gab seiner Mutter vielleicht wieder einen Grund zu leben.
Lange betrachtete der Mann Quinn. Dieses Mal war sein Blick nicht voller Ärger oder Gereiztheit, dieses Mal strahlte er Mitgefühl aus. Hoffnung keimte in Quinns Brust auf und die Kapitulation des Beamten erwartend, formten seine Lippen ein zaghaftes Lächeln.
Doch dann schüttelte der Beamte wieder den Kopf. „Es tut mir leid. Wenn ich diese Informationen weitergebe, könnte ich meine Stelle verlieren.“ Dann sprach er leiser weiter. „Die beste Chance hätten Sie im Fairview-Kinderheim am Stadtrand. Manche der Waisen werden von dort aus weitervermittelt. Andernfalls würde ich Ihnen empfehlen, nach Toronto zu reisen. Da gibt es einige Heime von Dr. Barnardo. Vielleicht haben Sie dort mehr Glück. Und nun, wenn Sie mich bitte entschuldigen würden …“ Mit diesen Worten stand Mr Churl auf, schenkte Quinn ein steifes Nicken und verschwand hinter dem Vorhang.
Erneut überkam Quinn eine Welle der Enttäuschung. Noch immer wusste er nicht genau, wohin man seine Geschwister vermittelt hatte. Doch wenigstens hatte er heute einen kleinen Hinweis erhalten, der ihn womöglich weiterbringen konnte. Nun galt es, herauszufinden, wo sich das Fairview-Kinderheim am Stadtrand befand.
Quinn steckte die Fotografie wieder weg, setzte seinen Hut auf und ging in Richtung Tür. Als er aus dem Gebäude heraustrat, kam ihm ein erfrischender Luftzug entgegen. Obgleich es fast Juni war, sorgte die Nähe zum Meer für eher frühlingshafte Temperaturen. Deshalb zog Quinn seinen Mantel fester um die Schultern, schlug den Kragen hoch bis an die Ohren und musterte die Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Vielleicht fand er dort ein Taxi. Sicher würde der Fahrer wissen, wo das Fairview-Kinderheim lag.
„Entschuldigen Sie bitte, Mr Aspinall?“, erklang eine zaghafte Stimme aus dem schmalen Gang zwischen der Meldebehörde und dem nächsten Gebäude.
Als Quinn sich umdrehte, sah er die junge Frau von eben. Sie kam einen Schritt näher, ohne jedoch dabei völlig auf den Bürgersteig zu treten. Wortlos und mit dringendem Blick streckte sie ihm ein Stück Papier entgegen.
Er ging auf sie zu, verbarg damit die Sicht auf sie und nahm den Zettel entgegen.
„Ich muss jetzt schnell zurück, bevor man mich vermisst“, sagte sie. „Aber ich dachte, das könnte Ihnen bei Ihrer Suche helfen.“ Dann drehte sie sich um und wollte zurückeilen, doch Quinn hielt sie sanft am Arm fest.
„Warten Sie. Woher …?“
„Es gab nur drei Kinder mit dem Namen Aspinall. Das war also nicht schwer“, erwiderte sie und zog ihren Schal etwas enger um die Schultern.
„Danke, Miss. Sie haben ja keine Ahnung, wie viel mir das bedeutet.“
„Ich glaube schon“, sagte sie mit Tränen in den Augen. „Meine jüngere Schwester galt bei der Explosion vor einem Jahr als vermisst. Zwei Tage lang habe ich verzweifelt nach ihr gesucht und sogar befürchtet, sie wäre vielleicht gestorben. Bis mich eine hilfsbereite Frau unterstützt hat und wir sie in einem der Erste-Hilfe-Zelte wiedergefunden haben. Ich kann mir also gut vorstellen, wie es Ihnen gerade geht. Vor allem, da Sie auch noch so weit weg von zu Hause sind.“ Dann schenkte sie ihm ein wackliges Lächeln. „Viel Erfolg auf Ihrer Reise. Ich hoffe, Sie finden Ihre Geschwister in Sicherheit und bei guter Gesundheit.“
„Vielen Dank noch einmal“, erwiderte Quinn und drückte ihr leicht die Hand, bevor sie in den Gang verschwand.
Während er zusah, wie sie zurückging, betete Quinn, dass die junge Frau nun nicht in Schwierigkeiten geriet. Mit zitternden Fingern öffnete er den gefalteten Zettel. Dort stand in krakeliger Handschrift: Rebecca Aspinall, Hazelbrae, Peterborough. Cecil und Harrison Aspinall, Dr.-Barnardo-Heim, Toronto.
Nachdenklich hob Quinn den Kopf und starrte die Straße entlang. Wo um Himmels Willen lag Peterborough? Toronto war eine sehr große Stadt – das hatte er von seinen Freunden auf dem Schiff erfahren, die dorthin wollten. Er faltete das Stück Papier wieder zusammen und steckte es weg. Zunächst würde er herausfinden, wie weit Peterborough von Toronto entfernt lag, und wenn es Sinn ergab, würde er zuerst dorthin reisen. Wenn nicht, wäre Toronto sein nächstes Ziel. Zu schade, dass er das nicht schon gestern herausgefunden hatte – dann hätte er heute Morgen mit Emmaline und Jonathan weiterreisen können.
Doch das war nicht weiter schlimm. Gott handelte immer rechtzeitig! Daran wollte er festhalten und machte sich auf in Richtung Bahnhof.
„Sie sind schon zwei Wochen drüber mit der Miete. Wenn Sie hier bleiben wollen, zahlen Sie. Heute! Und zwar alles.“
Julia Holloway hielt abrupt auf der ersten Treppenstufe inne. Insgeheim hatte sie gehofft, sich ungehört in ihr Zimmer im zweiten Stock schleichen zu können, doch ihr Vermieter musste bereits auf sie gewartet haben.
Als sie sich umdrehte, sah sie den Mann und wie er sie in einem schmutzigen Unterhemd, das nicht ganz über seinen Bauch reichte, aus seinem Türrahmen heraus anstarrte. Der scharfe Duft von Sauerkraut und Zwiebeln, vermischt mit seinem stechenden Körpergeruch, brachten Julia beinahe zum Würgen.
„Werden Sie mir das Geld jetzt geben oder muss ich Ihnen dafür in Ihr Zimmer folgen?“, fragte Mr Ketchum, während er einen der braunen Hosenträger zurechtrückte.
„Das wird nicht nötig sein“, erwiderte Julia und schluckte die Angst