Die sehende Sintiza. Monika Littau. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Monika Littau
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783898018890
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Widerwort. Komm!«

      »Sie haben Hunger!«

      »Sie verhungern schon nicht. Komm jetzt.« Buchela schüttelt den Kopf.

      »Es gibt hier genug Mädchen, die deine Arbeit übernehmen können.«

      Da legt Buchela eilig den Löffel beiseite, hebt das Kind von ihrem Schoß und ins Bett. Mörderisches Schreien. Buchela rennt hinter der Nonne her, die sich schnell entfernt.

      Im Arbeitsraum füllt das Mädchen ihre Kiepe mit Pantoffeln und Wachsfiguren und verlässt mit Schwester Fidelis das Haus. Sie biegen rechts ab, dann wieder links. Nach einigen Minuten ist schon der Lärm des Marktes zu hören.

      Wenig später können sie die Stände sehen. Lange hat Buchela nicht mehr so ein Treiben erlebt. Kartoffeln werden angeboten, Kohlköpfe stapeln sich auf Decken. Äpfel stehen in Körben auf dem Markt. Bäcker verkaufen ihr Brot. Garne und Nähnadeln werden angeboten, Stoffe, Spitzen, Hosenträger, Körbe und sogar getrocknete Strohblumen. Über den Ständen hängt das Geschrei der Verkäufer wie eine große Glocke, die an vielen Stellen gleichzeitig angeschlagen wird. Es gibt Käfige mit Küken, Hennen und Enten, am Rand verhandeln Männer lauthals über den Preis von Pferden.

      Der Stand der Borromäerinnen ist in der Außenreihe der Marktstände aufgebaut. Nur wenig Ware liegt auf der Tischfläche. Man hat gut verkauft. Buchela packt die Wollpantoffeln nach Farben sortiert in drei hohen Stapeln auf den Tisch. Davor baut sie mit den Wachsfiguren eine Landschaft aus Vieh.

      »Du kannst dann wieder zurück. Nimm die leere Kiepe und geh zügig«, sagt Schwester Fidelis.

      Buchela schultert den Korb und verschwindet im Gedränge, versichert sich mit einem Blick über die Schulter, dass Schwester Fidelis sie nicht mehr sehen kann und geht dann etwas langsamer an den Ständen vorbei. Sie saugt den frischen Brotgeruch ein, so dass ihr das Wasser im Munde zusammenläuft. Sie riecht die säuerlichen Äpfel, den frischen Most, der angeboten wird. Sie weicht vor ein paar Gänsen zurück, die sie aus einem Käfig anfauchen. Gans hat es immer zu Weihnachten gegeben. Das war ein Festessen. Ohne Gans war nicht Weihnachten. Einmal hat Tatta eine Geige für die Gans gegeben. Ein schlechter Tausch, denn die Geige war viel mehr wert. Aber die Gans musste sein. Und dann schaute er zu, wie alle zugriffen. Das war seine Freude. Das war sein Weihnachtsfest.

      Buchela riecht das gegerbte Leder eines Schusters, der Taschen anbietet, und betrachtet ein paar Schulranzen. So etwas Schönes hätte sie auch gern einmal für ihre Tafel, statt sie in einer Zeitung tragen zu müssen. Dann fällt ihr Blick auf eine Frau, die auf dem Boden sitzt. Vor ihr liegen ein paar kurze Stücke Spitze. Sonst nichts. Die Frau hält die Hand ausgestreckt, als hoffe sie, ein Almosen zu bekommen. Um die Schultern hat sie sich eine Decke geschlungen. Unter einem bunten Tuch, das um den Kopf gebunden ist, fallen schwarze Haare auf den Rücken. Der Kopf ist vornüber gesunken. Auf dem Tuch sind gelbe und rote Rosen gedruckt und in der Mitte jeder Blüte ist ein kleiner Spiegel aufgenäht. Buchela bleibt wie angewurzelt stehen.

      »Was stehst du hier im Weg. Sieh zu, dass du weiter kommst.« Sie wird von einem Mann angerempelt und tritt eilig zur Seite.

      Dann geht sie einen Schritt vor, beugt sich herunter und legt ihre Hand in die Hand der Frau. Die richtet sich auf und schaut dem Mädchen ins Gesicht.

      »Buchela!« Die Frau hat Ränder um die Augen. Sie sieht trotz ihrer dunklen Hautfarbe grau und müde aus. Buchela umarmt stürmisch ihre Mama. Dann hockt sie sich neben sie, so dass ihr Körper die Mutter berührt.

      »Gamli Daj. Dass du mir eins meiner Kinder zeigst!« Die Mutter weint.

      Buchela fährt ihr mit der Hand über den Rücken. »Die ganze Familie. Anton. Engelsüßchen. Dotla. Rafflo. Und der Vater! Und du. Alle weg. Nur mich haben sie laufen lassen, allein. Aber was bin ich so?« Weinen schüttelt den Körper der Mutter.

      »Nicht mal der Wagen da. Was für’n Wagen?, sagen sie zu mir. Der Wagen meiner Familie, sag ich. Der mit den Schnitzereien über den Fenstern. Der mit der roten Gardine am Eingang. Der mit Debleskri Daj in der hinteren Ecke. Unser Wagen eben. Ich bin hingegangen. Immer wieder. Am Ende haben sie gesagt: Du brauchst nicht mehr kommen! Ob die Gadsche damit Feuer gemacht haben? Ich weiß nicht. Ob sie ihn verkauft haben?« Mama beugt sich zu Buchela. »Jetzt hab ich dich wenigstens! Musst du meine ganze Familie sein!« Sie schnäuzt sich ausgiebig und grinst dann schief.

      »Und dann hab ich Glück«, fährt sie fort. »Ein bisschen. Ich komm über die Felder über die Landstraße, da sehe ich Wagen stehen. Und als ich näher bin, denk ich, das muss der Wagen von Josef sein, von meim Bruder. Und er war’s.«

      Die Hand der Frau streicht über die Spitzenstücke.

      »Schau, das verkauf ich. Aber es reicht nie nicht. Keine ordentliche Ware, kein ordentliches Geld. Und der Gadscho schenkt nichts!« Die Mutter seufzt. »Wenn ich bloß deinen Tatta wiederfände!«

      Sie wischt sich die Nase an der Innenseite des Ärmels.

      »Und du, mein Mädchen?« Buchela zuckt die Schultern.

      »Die Schwestern sind gut«, sagt sie. »Es gibt genug Essen.« Die Mutter nickt.

      »Und ich lerne lesen, schreiben und rechnen.«

      Da schnauft die Mutter verächtlich. »Das brauchst du nie nicht! Du brauchst deine Mama und deinen Tatta und deine Geschwister.«

      »Ich kümmere mich auch um kleine Kinder«, ergänzt Buchela, als wolle sie der Mutter sagen, dass sie auch etwas Sinnvolles tut.

      Wieder schnauft die Mutter.

      »Wir haben Kinder genug. Da kannst du dich kümmern! Was sollen die bei Fremden! Und du auch.«

      Die Hand der Mutter klopft nun unruhig auf ihren Rock.

      »Wie leicht das wär, wenn du für mich zu den Gadsche gingst! Du musst zu mir Buchela! Du bist deiner Mutter ihr Brot. Komm, lass uns gehen, sofort.«

      »Mama«, zögert Buchela. »Ich muss zu den Kindern. Die schreien vor Hunger.«

      »Du lässt deine Mutter allein. Wegen fremde Kinder?«

      »Mama, Schwester Fidelis darf nicht sehen, dass ich noch hier bin, sonst werde ich bestraft.«

      »Dann geh doch, wenn andere wichtiger sind.« Die Mutter weint wieder.

      Dann aber strafft sich ihr Körper.

      »Ich hol dich raus, Buchela. Wirst sehen, wir werden eine ordentliche Familie. Spätestens dein Geburtstag feiern wir alle zusammen. Dass mir die Augen rauskommen, wenn das nicht stimmt.«

      Sie drückt Buchela zur Bekräftigung fest die Hand.

      »Und morgen besuch ich dich.«

      Die Mutter küsst sie auf beide Wangen. Dann greift sie nach einem der kurzen Spitzenstreifen. »Hier, nimm. Dass du immer an deine Mama denkst.«

      Das Mädchen betrachtet das Stückchen Spitze in seiner Hand. Dann steht es auf und wirft einen ängstlichen Blick über den Markt, ehe es losläuft. An der Ecke dreht es sich noch einmal um und winkt der Mutter.

      10.

      Buchelas Hand umkrampft das Spitzenstück in der Schürzentasche. Hat Mama nicht gesagt, sie kommt am nächsten Tag? Das Wochenende verstreicht Stunde um Stunde. Und wenn Oberin Lucinda sie abgewiesen hat, nur weil der offizielle Besuchstag der Sonntag ist?

      Hätte Buchela nur nicht vergessen zu sagen, dass Mama sonntags kommen muss!

      Und wenn irgendetwas anderes geschehen ist?

      Für Sinti gibt es immer Schwierigkeiten: mit Behörden, mit Geld, mit dem Wagen. Die Gedanken laufen unruhig wie Mäuse im Kopf herum und lassen ihr keine Ruhe. Schließlich nisten sie sich in einem Nest aus Sorge ein.

      Ein Woche lang trägt Buchela die Spitze in ihrer Schürzentasche, dann legt sie sie in ihre Kiste mit den Habseligkeiten und schließt den Deckel darüber.

      Der Winter bricht herein mit