»Die nimmt dir doch keiner mehr weg.«
Änne sieht sie lachend an. Änne hat blonde Haare, blaue Augen und Sommersprossen und vom ständigen Reiben ist ihr rechtes Ohr rot angelaufen.
»Danke.«
Erschrocken presst Buchela die Lippen aufeinander. Ihr ist ein Wort herausgerutscht.
»Kannst ja doch sprechen«, grinst Änne.
»Auch von Schwester Benedicta«, sagt sie und zeigt auf ihre hellblaue Schürze.
»Meine Lieblingsfarbe ist nämlich hellblau. Obwohl das eine Jungenfarbe ist.«
Dass es Mädchen- oder Jungenfarben geben könnte, darüber hat sich Buchela noch nie Gedanken gemacht. Hauptsache, man hat überhaupt etwas zum Anziehen.
»Hellblau wie die Mosel. Mein Vater ist da Schiffer und hat keine Zeit für mich. Und meine Mutter ist tot.«
Draußen antwortet eine Amsel mit ihrem Gesang einer anderen. Ein Hin und Her der Vogelstimmen. Triller dazwischen. Buchela kann sich vorstellen, wie sie in den Spitzen zweier Bäume sitzen und sich ansingen. Es muss Abend sein. Amseln singen am frühen Morgen oder abends.
»Ich bin schon vier Jahre hier«, Änne reibt sich das Ohrläppchen.
»Wenn du wieder gesund bist und Lust hast, dann zeige ich dir hier alles.«
Buchela nickt.
»Morgen komm ich wieder.«
Als Änne aufsteht, sieht Buchela, was sie tags zuvor nur gehört hat. Änne hat ein steifes Bein. Deshalb geht sie so schlurfend. Deshalb klingt ihr Schritt so ungleichmäßig.
4.
»Achte auf die Fingernägel. Danach guckt der Sauerwein als erstes.«
Änne steht hinter Buchela in der Reihe der Mädchen, die sich zum Waschen angestellt haben. Auf dem Waschtisch liegt eine Bürste und Buchela schrubbt sich damit die Hände, bis sie krebsrot sind. Sie klatscht sich ein paar Mal das kalte Wasser ins Gesicht, dann rückt sie zur Seite, damit Änne ans Becken kann und beginnt ihr Haar zu bürsten. Sie schielt herüber zu den anderen.
Was muss sie jetzt tun? Die Kinder helfen sich gegenseitig, ziehen sich Scheitel, flechten die Zöpfe. »Helf dir gleich«, sagt Änne, als sie Buchela ratlos da stehen sieht. Änne flicht ihr das Haar, hilft beim Zuknöpfen des Kleides und der Schürze am Rücken. »Jetzt du«, sagt sie und kehrt Buchela den Rücken zu.
Zusammen gehen sie zur Kapelle. Buchela ist getauft, aber im Gottesdienst war sie nie. Zuhause hat die Mutter in einer Ecke des Wagens die schwarze Sara und die Muttergottes hängen. Darunter eine Kerze. Manchmal stellt sie in diesen Winkel Wiesenblumen, die sie gepflückt hatte. Dort hebt Tatta in einem Fach, das er sich gemacht hat, ein Säckchen auf, in dem manchmal Münzen sind. Nur einmal ist Buchela mit Mama in einer Kirche gewesen. Sie haben der Muttergottes eine Kerze angezündet und ein Halstuch geschenkt. Mama hat das leere Säckchen immer wieder über den Rand des Altars gerieben. Da musste ihr Buchela sagen, dass sie sich keine Sorgen machen muss, dass sie Geld bekommt. Statt sich zu freuen, hat die Mutter sie wütend angesehen. Als sie aber tatsächlich, am nächsten Tag eine Münze erhielt, war sie aufgeregt zu Tatta gelaufen und hatte behauptet, Buchela hätte die Gabe. Wie die Mami, wie die Großmutter.
Die Sprache, die im Gottesdienst gesprochen wird, kennt Buchela nicht. Sie staunt, dass die anderen immer genau zu wissen scheinen, was sie auf den Gesang des Priesters antworten müssen. Mit scharrenden Geräuschen stehen die Mädchen auf und knien sich hin. Buchela beobachtet in ihrer Reihe, ob sich eine bewegt. Sie will so schnell sein wie die anderen und nicht auffallen.
Der Gesang der Mädchenstimmen ist leicht und fliegt ganz hoch. Kein bisschen rau, wie die Lieder ihrer Mama oder der Tanten. Das Brummen, das aus den Jungenbänken kommt, versucht sie zu überhören.
Der Priester trägt ein Spitzenkleid mit einem Überwurf, der mit Gold bestickt ist: Reben und Blätter ranken sich um ein Kreuz auf der Vorder- und Rückseite. Manchmal klettert er in eine Tonne, die so hoch angebracht ist, dass er allen Kindern auf den Scheitel sehen kann. So weiß er sofort, wer von ihnen ordentlich ist und wer nicht, denkt Buchela. Sie beneidet die Ministranten in ihren Chorhemden und weil sie goldene Gefäße tragen dürfen. So was hat sie noch nie in Händen gehabt.
Am schönsten aber ist ein Engel, der links an die Wand gemalt ist, weiß und mit großen goldenen Flügeln, die hinter seinem Rücken aufragen. Er hebt seine rechte Hand, als wolle er sie grüßen. Buchela muss immerzu dorthin schauen. Und dabei bemerkt sie zu spät, dass sich alle hinknien. Änne stößt sie vorsichtig in die Seite. Buchela wendet ihren Kopf wieder nach vorn. Nur wenn sie mit äußerster Anstrengung die Augäpfel ganz nach links dreht, kann sie von dem Bild noch etwas sehen. Das verschwimmt und strahlt ein milchiges Licht aus. Nach kurzer Zeit schmerzen ihre Augen so sehr, dass sie es aufgibt. Die Ministranten klingeln zweimal.
Der Priester hebt ein Goldgefäß über seinen Kopf. Er knickst. Dann zeigt er allen ein rundes Plättchen. Wieder knickst er. Er bricht das Plättchen, steckt es sich in den Mund und kaut. Dann dreht er sich um und kommt mit einem goldenen Gefäß die Altarstufen herunter. Die Kinder stehen auf und gehen in einer langen Reihe nach vorn. Schwester Benedicta zieht Buchela am Ärmel. »Du nicht! Setz dich wieder in die Bank.« Buchela sieht sie verständnislos an, fügt sich aber. Sie sieht, wie Änne sich am Altar hinkniet und ihre Zunge herausstreckt und etwas darauf gelegt bekommt. Änne rutscht in die Bank zurück, schließt die Augen und ist ganz weit weg. So weit weg will Buchela auch sein und schließt ebenfalls ihre Augen.
Nach dem Gottesdienst gehen sie in Zweierreihen in den Speisesaal. Es gibt trockenes Brot und Pfefferminztee, der in den großen Blechkannen bereits lauwarm geworden ist. Buchela wundert sich, wie das Wasser erhitzt wird, nirgends sieht sie ein offenes Feuer. Und wer hat überhaupt die Pfefferminze gesammelt?
Schweigend nehmen sie das Frühstück ein.
Erst auf dem Weg zur Schule rennen, hüpfen, lärmen die Mädchen und Jungen. Sie entschlüpfen dem Kloster wie junge Hunde dem Zwinger, kaum, dass die Tür einen Spalt breit geöffnet ist. Buchela geht in ihren großen Schuhen neben Änne, die nur mühsam vorankommt.
»Warum durfte ich kein Plättchen?«, fragt Buchela ernst.
»Welches Plättchen?«
»Das in der Kirche.«
Änne lacht. »Plättchen! Wenn das der Pastor hört. Das darf man nur, wenn man schon die Heilige Kommunion hatte!«
Buchela runzelt die Stirn.
»Die Heilige Kommunion ist, wenn man zum ersten Mal am Tisch des Herrn sitzen darf und ihn empfängt. Normalerweise geht man mit zehn. Wie alt bist du eigentlich?«
Buchela zuckt die Schultern.
»Aber du hast noch nie so was bekommen?«
Wieder zuckt Buchela die Schultern.
»Das musst du doch wissen!«
Buchela blickt zu Boden. Sie weiß gar nichts. Nein, sie kann sich an nichts dieser Art erinnern. Sie hat auch niemals gesehen, dass ihre Geschwister so was bekommen haben.
Änne legt ihr die Hand auf den Rücken. »Bestimmt bist du Ostern bei der Erstkommunion.«
Was immer diese Erstkommunion auch ist, Buchela will es auch dürfen.
5.
Das Rennen und Rufen, das Lachen und Schubsen dauert nur kurze Zeit, dann befindet sich Buchela gemeinsam mit fünfzig anderen Mädchen in einem dunklen Klassenraum. Es riecht nach Kreide und Muff. Der Lehrer sitzt an seinem erhöhten Katheder. Buchela bleibt unschlüssig an der Tür stehen und wartet, dass Sauerwein sie sieht.
Sauerwein ist ein älterer Mann mit lichten grauen Haaren. Ein Vollbart füllt das hagere Gesicht aus, so dass der schmale Mund, der als schräge Linie darin steht, fast verschwindet. Auf der leicht gebogenen großen Nase trägt er eine dunkle Schläfenbrille und liest in einem Buch, das