Die sehende Sintiza. Monika Littau. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Monika Littau
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783898018890
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ein Bussard sieht er aus.

      Entweder er hat sie nicht bemerkt oder er lässt sie absichtlich warten. Endlich klappt er den Buchdeckel zu, putzt sich die Nase und rückt die Brille zurecht. Er blickt über die Klasse, wendet den Kopf Buchela zu und mustert sie eingehend vom Kopf bis zu den unförmigen Schuhen.

      »Komm mal her.«

      Das Mädchen nähert sich dem Podest. Es sieht in die hellbraunen Augen des Mannes, die mit seltsam gelben Sprenkeln durchsetzt sind und weiß, sie muss sich vor dem Mann in Acht nehmen.

      »Wen haben wir denn da?« Buchela nimmt eine Mischung aus Bier- und säuerlichem Mundgeruch wahr. »Du bist wohl Zigeunerin, was?«

      Buchela nickt.

      »Was man uns so alles in die Schule schickt! Eins sag ich dir: Wenn hier irgendetwas wegkommt, dann setzt es was! Wie alt bist du denn?«

      Buchela zuckt mit den Schultern und sieht im gleichen Moment, wie die Mädchen in der Reihe vorn breit grinsen.

      »Wahrscheinlich hast du noch nie eine Schule von innen gesehen, was? Du setzt dich ganz nach hinten. Wahrscheinlich lernst du ja doch nichts.«

      Buchela geht zu der ihr zugewiesenen Bank, rutscht hinein. Sauerwein beobachtet sie und schüttelt ausgiebig den Kopf.

      »Dann zeigen wir dir erst mal, wie man ordentlich sitzt.« Der Lehrer erhebt sich, kommt langsam auf sie zu und spricht dazu umso schneller.

      »Füße mit ganzer Sohle auf die Erde. Oberschenkel müssen auf der Bank sein. Kantensitzen ist verboten! Rücken gerade, Brust raus! Aber nicht an die Tischkante anlehnen. Kopf gerade, Schultern parallel zur Tischkante, der linke Vorderarm ganz, der rechte wenigstens mit der vorderen Hälfte auf der Tischplatte.«

      Buchela ist verwirrt. Was soll sie zuerst tun? Sie weiß es nicht und bleibt unbewegt sitzen. Schallend lacht der Lehrer und als er nicht aufhört damit, nimmt die Klasse es als Signal, ausgelassen mitzulachen. Dann aber hält der Lehrer plötzlich inne und es wird still. Er stellt sich neben Buchela, beginnt mit seinen Anweisungen noch einmal von vorn und schiebt ihre Schultern in die richtige Position.

      »Und jetzt die Tafel auf das Pult und den Griffel. Du malst die Tafel voll mit lauter Unterrockspitze und dann kommst du zu mir.«

      Buchela schwitzt. Sie ahnt, dass der Lehrer zuhacken kann. Was für Unterrockspitze? Ihre Mama hat mehrere Röcke, die sie übereinander zieht. Aber Spitze? Spitzen gibt es nur an den Deckchen, die sie manchmal an den Türen verkauft.

      Buchela gibt sich Mühe, wunderbare Muster auf die Tafel zu malen. In jede Reihe ein neues, mit großen und kleinen Schlaufen und Kreuzchen und Kringeln. Das Mädchen spürt, wie sich der Lehrer über sie beugt. Sein warmer, säuerlicher Atem berührt ihren Hals.

      »Was ist das denn für ein Unsinn? Die ganze Tafel gleich! Schwungübungen sollst du machen!«

      Buchela spuckt auf die Tafel und wischt schnell mit dem Ärmel alles weg, damit sie von Neuem beginnen kann.

      Da bekommt sie einen kräftigen Schlag in den Nacken.

      »Wir sind hier keine Zigeuner! Nimm dir dein Läppchen und befeuchte es am Wassertopf. Und dann putzt du die Tafel richtig sauber. Ohne Streifen.«

      Seit diesem Vorfall heißt Buchela bei allen in der Schule die Sääwer2. Sobald der Name gerufen wird, grinsen die Kinder. Selbst der Lehrer nennt sie nicht beim Vornamen wie die anderen oder zumindest beim Nachnamen, wie er dies bei den Waisenhäuslern tut. Auch er spricht von der Sääwer. Und dafür hätte ihm das Mädchen am liebsten ins Gesicht gespuckt.

      »Sääwer!«, rufen die Kinder auf dem Schulhof.

      »Brich deinen Hals«, murmelt Buchela in Romanes. Aber das melden die anderen Sauerwein.

      »Rotwelsch ist in der Schule verboten!«, sagt der. »Merk dir das. Erwische ich dich noch mal, dann setzt es was.«

      Die einzige, die Margaretha zu ihr sagt, ist Änne.

      Manchmal denkt Buchela, dass Kinder nur gut werden können, wenn sie etwas ziemlich Schreckliches erlebt haben, wie die humpelnde Freundin. Hätte sie Änne nicht, die ihr in der Pause in einer Ecke Märchen erzählt, sie würde weglaufen. Irgendwohin, wo es keine muffigen Klassenräume mit ungerechten Lehrern gibt.

      Änne besitzt ein Märchenbuch, das sie ständig bei sich trägt. Aus dem hat ihr die Mutter vorgelesen. Das Buch ist eingeschlagen in ein grobes braunes Papier. Darunter befindet sich ein heller, feiner Leineneinband. Vorn ist ein Vogel in brauner Farbe aufgedruckt, der auf einem Ahornzweig sitzt und den Schnabel geöffnet hat, weil er singt. Auf dem lockeren Buchrücken hält ein seltsamer Mann einen sehr langen Bambusstab, an dessen Ende sich ein Lampion befindet. Und in den Lampion hinein sind Buchstaben gesetzt.

      »Der sieht aber komisch aus mit dem langen Zopf, dem Kleid und den Goldpampuschen!«

      »Ein Chinese«, erklärt Änne. »Und Chinesen sind ganz gelb im Gesicht.« Buchela staunt. Da gibt es also nicht nur diese hellen Gesichter und die braunen der Sinti, sondern auch gelbe. Davon hat sie noch nie etwas gehört.

      Änne ist schon in der dritten Klasse und kann lesen. Aber eigentlich kennt sie alle Märchen auswendig, so dass Buchela nicht weiß, was sie abliest oder auswendig daher sagt.

      Den Anfang einer Geschichte kennt auch Buchela bald wie Änne auswendig: »Jedes Mal, wenn ein gutes Kind stirbt, kommt ein Engel zur Erde hernieder, nimmt das tote Kind auf seine Arme, breitet die großen, weißen Flügel aus und pflückt eine ganze Handvoll Blumen, die er zu Gott hinaufbringt, damit sie dort noch schöner als auf der Erde blühen.« Und dann stellt sie sich Anton mit seiner Schmalzlocke und dem roten Halstuch vor. Er wird von einem Engel mit einem Strauß Kornblumen und Margariten und Klatschmohn zum Himmel getragen. Genauso muss es gewesen sein.

      Und Buchela hofft fest, dass der Lehrer und die anderen Kinder von niemandem abgeholt werden, wenn sie mal ins Gras beißen.

      6.

      Aufstrich, Ei, Häkchen, Abstrich, Häkchen.

      Buchela füllt die Tafel mit Kurrentbuchstaben. Zwei Reihen mit kleinen As, dann zwei Reihen mit großen, die sich zwischen der dicken Ober- und Unterlinie spannen. Sie hält den Griffel verkrampft in der Hand. Die Finger schmerzen. Die Buchstaben müssen alle eine leichte Schrägstellung haben und zwar alle gleich, hat Sauerwein gesagt.

      Sie ist die Letzte. Alle anderen sind mit den Hausaufgaben schon fertig. Schwester Christophera geht unruhig auf und ab. Buchela versucht, sich zu beeilen. Aber das große B ist wirklich schlimm. Sie wischt alles wieder weg und beginnt von vorn.

      »Es gibt noch anderes zu tun. Sieh zu, dass du fertig wirst!«, sagt die Nonne ärgerlich.

      Hastig füllt das Mädchen die Vorderseite des Schiefers. Die Buchstaben stehen kreuz und quer auf den Linien, als tanze jeder einzelne aus der Reihe. Sie torkeln über die Fläche, wie ihre Onkels und der Vater, wenn sie betrunken sind. Aber besser kann sie es nicht. Schließlich schlägt sie die Tafel in ein Stück Zeitung ein, damit nichts verwischt.

      Buchela ist eingeteilt zum Putzen. Sie fegt den ausgetretenen Steinboden der Eingangshalle Strich für Strich, holt sich einen Eimer Wasser, schrubbt die Platten, arbeitet sich im Fliesenmuster von einem roten Quadrat im grauen Grund zum nächsten vor.

      In der vergangenen Woche hat sie Kartoffeln gelesen, ist auf den Knien mit ihrem Korb über den schmierigen Ackerboden gerutscht. Endlose Reihen bis zum Himmel. Feuchte Erde an den Händen. Die dicke Schicht trocknete irgendwann, riss auf, sprang flächig ab von der Haut. Am Kartoffelkrautfeuer fühlte sie sich fast wie zu Hause.

      Am liebsten hat sie Ziegendienst. Dann geht sie allein mit den Tieren aus der Umzäunung der kleinen Weide heraus, zerrt die braunweiße Schecke und die Weiße mit dem gelben Rücken vom Wegrand weg, wo sie sofort anfangen, die herunterhängenden Äste der Bäume zu benagen. Sie zieht sie hinter sich her bis zum Waldrand, hämmert den Pflock mit einem Stein in den Boden und setzt sich an den Stamm eines Baumes.

      Die Borromäerinnen haben sich auf die