II
Heute spricht kaum noch ein Historiker vom »finsteren Mittelalter«. Sie wissen, dass der Dichter Petrarca in der Frühen Renaissance, genauer in den 1330er-Jahren, diesen Ausdruck prägte, und empfinden den zugrunde liegenden Gegensatz zwischen dem »Licht« der antiken Welt und der angeblichen »geistigen Finsternis« der späteren Zeit als ahistorisch.9 In der britischen Geschichte wird das Konzept der »Dunklen Jahrhunderte« nur für die zwei oder drei Jahrhunderte verwendet, die mit dem Rückzug der römischen Legionen begannen und für ihre Quellenarmut berüchtigt sind. Genau in diesem Zeitraum herrschen die Herren von Alt Clud, dem Königreich von Dumbarton Rock.
Unklarheit ist damit also das Kennzeichen der Zeit. Zusammenhängende Darstellungen sind nur unter großen Schwierigkeiten möglich, und historische Untersuchungen bieten eine Spielwiese für alle, die gern spekliheren. Fakten bilden winzige Inselchen sicheren Wissens in einem riesigen Meer aus Leerstellen und Chaos. Die wenigen Quellen sind oft in ausgefallenen Sprachen geschrieben, mit denen nur sehr wenige Spezialisten etwas anzufangen wissen. Alle Urteile würden profitieren, wenn man sie in unbestrittene (sehr wenige), abgeleitete, durch Analogien gebildete oder vorläufige (die meisten) einteilen würde.
Außerdem gibt es da noch das tief sitzende Problem der Parteinahme. Die frühe Geschichte der Britischen InselnD war durch einen Überlebenskampf zwischen den alten Briten, den irischen Gälen, den Skoten, den Pikten und einer bunten Mischung einwandernder germanischer »Angelsachsen« geprägt. In der Moderne haben einige dieser Gruppen begeisterte Anhänger gefunden. Die Engländer, die heute die beherrschende Mehrheit stellen, haben – wenigstens in der populären Geschichtsschreibung – den Triumph ihrer Vorfahren oft als gegeben vorausgesetzt. Sie bewundern die imperialistischen Römer und identifizieren sich mit den Angelsachsen, aber sie verachten die Kelten. Sie schätzen Beda, der ein germanischer Northumbrier war und den sie Venerabilis (»verehrungswürdig«) nennen, und lassen seine Historikerkollegen außer Acht. Sie mögen die keltischen Quellen nicht, die sie nicht lesen können, und lassen sie regelmäßig als fantastisch oder unzuverlässig unter den Tisch fallen. Die Schotten, deren Vorfahren letztlich in Schottland triumphierten, können ebenso egozentrisch sein. Heute gibt es nur noch wenige Menschen, die für die Sache des »Alten Nordens« eintreten.
Dieser Begriff – die Waliser sprechen von Yr Hen Ogledd – erfordert eine Erklärung. Die alten Briten, Dutzende regionaler Stämme, die ganz Großbritannien vor der römischen Eroberung beherrschten und der Insel ihren Namen gaben, wurden allmählich vertrieben oder in nachrömischer Zeit integriert, und ihre frühere Vorherrschaft in allen Teilen der Insel ist weitgehend vergessen. Ihre offensichtlichsten Nachkommen, auf Englisch als die »Welsh«, die »Fremden« bekannt, bewohnen heute nur eine Ecke ihres früheren Heimatlandes, ein Überbleibsel, das die herandrängenden Engländer »Wales«, das »Fremde Land«, nannten.E Das war einmal anders. Nach dem Ende des römischen Britannien und dem Zustrom von »Angelsachsen« hielten sich die Briten in drei Hauptregionen besonders lange. In einer davon, dem heutigen Wales, haben sie überlebt. In den anderen beiden, dem heutigen Cornwall und dem »Alten Norden«, haben sie es nicht geschafft. Und doch war ihre Präsenz dort sehr real und hatte über Jahrhunderte Bestand. Alt Clud war der langlebigste Rest der Vormacht der alten Briten im nördlichen Britannien, der Region, die schließlich zu Schottland werden sollte.
Man sollte deshalb vielleicht mit einer unbestrittenen Tatsache beginnen: Dieses Reich gab es wirklich. Seine Geschichte spiegelt sich in archäologischen und linguistischen Belegen, in den Chroniken seiner Nachbarn, in Königslisten und in Anspielungen aus Dichtung und Sagen; es existierte sechs- oder siebenhundert Jahre lang. Sein ursprünglicher Name und seine genauen Grenzen sind unbekannt. Aber wir wissen mit absoluter Sicherheit, dass es da war. Zwischen der Abenddämmerung des römischen Britannien und dem Morgengrauen Englands und Schottlands gab es verschiedene keltische Reiche im nördlichen Britannien. Alt Clud ging als Letztes unter.
Die Kelten der Britischen Inseln teilten sich in römischer Zeit – wie auch heute noch – in zwei unterschiedliche Sprachgruppen. Auf der Grünen Insel, Éire, sprachen die gälischen oder goidelischen Kelten eine Sprache, die Linguisten als »Q-Keltisch« bezeichnen. Ihr Wort für »Sohn« war mac. Auf der größeren Insel Prydain (Britannien) sprachen die britischen Kelten Brythonisch oder »P-Keltisch«. Ihr Wort für »Sohn« war map. Für den Uneingeweihten klingen der goidelische und der brythonische Zweig des Keltischen unterschiedlich und sehen auch so aus, aber ein guter Lehrer kann die Lautverschiebungen von den gemeinsamen Wurzeln her schnell erklären. Die charakteristische Satzstellung mit Prädikat–Subjekt–Objekt blieb unverändert, und morphologische Verschiebungen folgten oft parallelen Mustern. Goidelische wie brythonische Kelten nahmen zum Beispiel neue Systeme der Silbenbetonung an, doch während die goidelischen sich für den Akzent auf der ersten Silbe des Wortes entschieden, ging man im Brythonischen dazu über, die vorletzte Silbe zu betonen. Beide Sprachgruppen schwächten die Konsonanten zwischen Vokalen ab. Im Goidelischen verwandelte sich t zu th, im Brythonischen zu d, sodass ciatus (Schlacht) zu cath (Irisch) und cad (Walisisch) wurde. Der w-Anlaut wurde im Goidelischen durch f und im Brythonischen durch gw ersetzt, sodass »wahr« im Irischen fir und im Walisischen gwir heißt. Englische Ohren sind an diese Laute nicht gewöhnt. Da aber das Goidelische/Gälische wie auch das brythonische »Altwalisisch« auf Dumbarton Rock zu hören waren, klingt ihr Nachhall, allerdings nicht immer richtig und vollständig verstanden, noch deutlich in der Hintergrundmusik mit.10
In den vier Jahrhunderten unter römischer Herrschaft waren die Romano-Briten in der Provinz Britannia deutlich weniger latinisiert als ihre keltischen Verwandten in Gallien oder Iberien. Manche waren sicher zweisprachig und griffen bei Kontakten mit Römern auf das Lateinische zurück, während sie untereinander Brythonisch sprachen; andere konnten womöglich gar kein Latein. Als das Westreich zusammenbrach, gingen sie nicht wie die Franzosen oder Spanier zu einer neulateinischen Mundart über, sondern kehrten zum Brythonischen zurück, bis sie neue linguistische Herausforderungen in Gestalt der fremden Sprachen germanischer Invasoren, gälischer »Skoten« aus Irland und später Nordisch sprechender Wikinger meistern mussten.
In der Moderne haben sich alle daran gewöhnt, Britannien in England, Schottland und Wales zu unterteilen. Aber diese moderne Landkarte muss man aus seinem Denken verbannen, wenn man den früheren Aufbau der Insel wirklich verstehen will. Damals, als die Provinz Britannia zusammenbrach, gab es kein England, da die angelsächsischen Vorfahren der Engländer gerade erst ankamen. Es gab kein Schottland, weil die Schotten noch gar nicht da waren, und es gab kein klar umrissenes Wales. Die früheren Romano-Briten und ihre P-keltische Sprache verbreiteten