Auch nach der Ausbildung winkt oft nur ein Leben mit befristeten Jobs, ohne Festanstellung, ohne längerfristigen Wohnsitz. Und somit auch ohne große Chance, solide Bindungen aufzubauen, wie wir sie bisher kannten. Auch der Begriff der »Kettenbefristung« hat sich darum längst etabliert. Ebenso die Anwälte, die sich darauf spezialisiert haben, für ihre Mandanten zu klagen, wenn deren Arbeitsverträge über Jahre immer nur kurz verlängert werden. Jeder zwölfte Arbeitnehmer in Deutschland hat laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aktuell einen befristeten Arbeitsvertrag, Auszubildende nicht mitgerechnet. Das sind 3,15 Millionen Menschen.
Bekannt wurde ein Fall, der vor dem Bundesarbeitsgericht landete. Eine Arbeitnehmerin war nach ihrer Ausbildung über mehr als elf Jahre hinweg nur auf Zeit beschäftigt. Sie hatte am Ende dreizehn befristete Arbeitsverträge hintereinander unterschrieben, was vom Arbeitsgericht schließlich als unzulässig erklärt wurde. Eine Kanzlei für Arbeitsrecht schrieb: »Eine Kettenbefristung kann Missbrauch sein.«
Angestellte wie Freiberufler sollen zudem immer flexibler arbeiten, ohne Anspruch auf einen festen Standort. Mehr noch: Der Jobwechsel wird – ebenso wie der (oft grenzüberschreitende) Wohnortwechsel – sogar zum Leistungsmerkmal. Agilität ist das Stichwort. Auch hier sind weniger soziale Kontakte eine logische Folge. Hinzu kommt die Digitalisierung vieler Arbeitsplätze, die Automatisierung zahlreicher Produktionsabläufe.
Der moderne Mensch wird dabei kaum zu einem modernen Wanderer. Zu einem, der aufbricht, eine bestimmte Wegstrecke bewältigt, um anschließend an einem Ziel anzukommen. Er wird vielmehr zu einem austauschbaren Pixel, zu einem beschleunigten Einzelteilchen, das wie ein Bit durch die Weltenbahnen rast.
Einen treffenden Begriff für das moderne Individuum dieser Machart haben wir längst verinnerlicht. Den digital nomad kennen wir, an den digital loner sollten wir uns gewöhnen.
Viele bekommen die Folgen dieser flott getakteten Welt zu spüren. Rebecca Nowland von der University of Central Lancashire beschäftigt sich mit den Ursachen und Gefahren von Einsamkeit und kommt zu dem Schluss, dass gerade die 20- bis 30-Jährigen ein Problem haben. In einem Interview mit der Zeit sagt sie: »Ich nenne es das Bridget-Jones-Phänomen: Nach einem Tag voller Arbeit, Meetings oder Seminaren kommt man nach Hause und merkt plötzlich, wie einen die Einsamkeit überkommt. Tagsüber war das vielleicht nicht so spürbar. Aber jetzt sitzt man allein im Zimmer und merkt, dass man niemanden hat, den man anrufen kann.«
Oder, besser, neuer, zeitgemäßer: Da sind auf einmal zu viele, die man anrufen oder anchatten könnte.
Es gibt noch eine weitere verbreitete Variante der Vereinzelung. Besonders in Deutschland, wo nach Scheidung oder Familienbruch mehr Männer als Frauen das Los des Entkoppelten trifft. Studien zufolge sind es vor allem Männer, die sich nach Trennungen aus dem gemeinsamen Freundeskreis zurückziehen. Die das Scheitern vertuschen, indem sie sich auch unter Arbeitskollegen rarmachen, sich abkapseln oder gar bewusst lügen. Denn so unterschiedlich und weitgreifend das Syndrom der Einsamkeit ist: Es ist nicht sexy, sondern irgendwie peinlich, weil es soziale Inkompetenz signalisiert.
Einsamkeit wird darum oft auch noch von einem Schneeballeffekt begleitet, bei Jung und Alt. Wer einsam ist, der gibt es nicht gern zu. Man zieht sich zurück – und wird noch einsamer. Weiterer Nebeneffekt: Weil viele es nicht zugeben, auch nicht in Erhebungen und Umfragen, dürfte die Dunkelziffer der Einsamen enorm hoch sein.
Auch ein Mitarbeiter der Telefonseelsorge im niedersächsischen Stade berichtet, dass die Anrufe in den letzten Jahren stark zugenommen haben. Zu viert sitzen sie dort in einem kleinen Raum vor den Telefonen, oft sind die Leitungen den ganzen Tag belegt. Die Telefonseelsorger berichten von einer starken Diversifizierung der Anrufer: »Es rufen inzwischen Menschen fast jeden Alters an, vor allem aber 30- bis 45-Jährige haben wir immer öfter an der Strippe«, sagt einer der Mitarbeiter, der seit vielen Jahren hier arbeitet. Inzwischen würde er das ganze Kaleidoskop an Fällen am Apparat haben.
Die Menschen würden meist ins Stammeln geraten, wenn die Seelsorger sie nach dem Grund für ihre Sorgen fragen. Oft sprechen die Betroffenen von Depressionen, von Schwermut, wissen jedoch meist selbst nicht genauer um die Ursache ihrer misslichen Lage. Dabei würden die meisten letztlich unter einer Form der Kontaktarmut leiden, die im Laufe fast jeden Gesprächs irgendwann so zum Ausdruck kommt: »Ich habe sonst niemanden zum Reden.«
Ein folgenschwerer Satz. Nicht nur, weil eine Tristesse in ihm anklingt, sondern weil der unter ihm schlummernde Seelenzustand tatsächlich krank macht. »Wenn wir uns von anderen Menschen fernhalten, setzen wir uns enormen Risiken aus«, sagt der amerikanische Neurowissenschaftler James Coan. Wer einsam sei, würde öfter krank, Wunden würden schlechter heilen, das Immunsystem leiden. Auch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Depressionen steige, zudem würde man eher dement, man sterbe früher.
»Soziale Isolation tötet«, sagt Coan. »Das ist eine Tatsache.«
Sind Krankheiten wie Bluthochdruck, Herzattacken oder auch Schlaganfälle also keineswegs nur auf konkrete Ursachen zurückzuführen, sondern können sie auch durch Einsamkeit ausgelöst werden? Zu diesem Schluss kommt zumindest die Psychologin Julianne Holt-Lunstad von der Brigham Young University in Utah. Sie fasste die Aussagen von 3,4 Millionen Menschen sowie 70 verschiedene Studien zu einer Metaanalyse zusammen. Das Ergebnis: Die Sterbewahrscheinlichkeit stieg um 26 Prozent bei subjektiv empfundener Einsamkeit, um 29 Prozent bei objektiv beschreibbarer menschenvermeidender Einstellung und sogar um 32 Prozent, wenn die Teilnehmer allein lebten.
Dass Einsamkeit tatsächlich krank macht, zeigen Experimente. Im März 2020 wiesen Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge nach, dass Einsamkeit Empfindungen auslöst, die mit Hunger vergleichbar sind. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Nähe zu anderen Menschen ein so fundamentales Bedürfnis ist wie Essen. Vor allem eine unfreiwillige Isolation löst im Körper anscheinend eine regelrechte Stressreaktion aus, die dem Betroffenen signalisiert, dass ihm Lebenswichtiges fehlt. Und dieses Hungern nach Gesellschaft kann chronisch werden.
Andere Versuche haben hingegen gezeigt, wie Nähe lindern kann, dass schon Händchenhalten wie Balsam auf uns wirkt. Probanden in einem Hirnscanner wurden dafür Elektroschocks verabreicht. Ein Teil der Gruppe musste die Traktierungen allein ertragen, andere durften die Hand eines Fremden halten, die nächsten die Hand des Partners. Die Resultate waren eindeutig. Wer mit einer vertrauten Person Hand in Hand stand, litt statistisch gesehen am wenigsten. Die Berührung wirkte offenbar wie ein Schmerzmittel, denn die Hirnregionen, die bei Gefahr aktiviert werden, reagierten bei den händchenhaltenden Pärchen deutlich weniger. Der Hirnforscher James Coan erklärt das Phänomen so: »Wenn wir uns einem anderen Menschen anvertrauen, muss sich unser Gehirn weniger anstrengen. Und je mehr wir es auf diese Weise entlasten, desto besser sind wir vor psychischen und auch physischen Krankheiten geschützt.«
In der Gesamtschau fügen sich diese Beobachtungen letztlich zu einem besorgniserregenden, wenn nicht gar bedrohlichen Bild. Denn wenn Einsamkeit tatsächlich krank macht, wenn verschiedenste Formen der Vereinzelung inzwischen weite Teile unserer Gesellschaft erfasst haben und diese Gesellschaft obendrein immer älter wird, dann dürfte das Problem zunehmend auch Auswirkungen auf die Wirtschaft und unsere Gesundheitssysteme haben. Und somit unweigerlich zum Politikum werden.
In anderen Ländern stellt man sich dieser Aufgabe bereits. In England wurde ein Ministerium für Einsamkeit gegründet, um die vereinsamende Gesellschaft besser zu verstehen und ihr gezielt zu begegnen. Die von der ehemaligen Premierministerin Theresa May ins neue Amt berufene erste Ministerin für Einsamkeit, Tracey Crouch, begründet den Schritt so: »Einsamkeit ist eine reale und diagnostizierbare Geißel.«
Die Folgen fallen schon jetzt dramatisch aus. Durch den demographischen Wandel nimmt die Vereinzelung unter alten Menschen ständig weiter zu. In den westlichen Industriegesellschaften ist dies bereits als einer der traurigen Gigatrends der nahen