Was also bedeutet Einsamkeit? Was kann sie bedeuten, beinhalten, bewirken? Diese Fragen lassen mich heute ebenfalls wissen: Einsamkeit ist bei weitem keine so offensichtliche und eindeutige Angelegenheit, wie die meisten Menschen glauben. Die Fragen schicken einen vielmehr auf tausend Pfade.
Liegt eine Isolation darin begründet, keine Freunde zu haben? Äußert sich Einsamkeit in dem Wunsch, am liebsten und immer öfter einfach zu Hause bleiben zu wollen? Lässt sie sich daran bemessen, wie oft wir mit wem sprechen, uns austauschen, uns treffen? Und kann die Last der Einsamkeit sich womöglich auch hinter jenen feinen Untertönen verbergen, die in der Frage mitschwingen, nicht wie oft und wie laut wir mit jemandem kommunizieren, sondern auch wie ehrlich, wie offen, wie wahrhaftig?
Eines kann ich gleich verraten: Antworten zu finden ist nicht leicht. Es ist schwer. Und oft sind ausgerechnet die widersprüchlichsten Aussagen zum Thema die eindeutigen Indikatoren der Einsamkeit. Wie also mit diesem ganzen Ding am Ende umgehen? Wie sich dieser kuriosen Seelendisponiertheit überhaupt nähern?
Damit kommen wir zu einem ersten grundsätzlichen Problem. Denn Einsamkeit ist nichts Dingliches, das wir greifen können. Einsamkeit besitzt keine messbare Größe, erlaubt keine numerische Diagnose. Wir können Einsamkeit beschreiben, aber nicht abschließend (er)klären. Auf keinem Röntgenbild ist sie zu sehen, in keinem Blutbild eindeutig nachzuweisen. Schon der Ort, wo die Einsamkeit wohnen soll, bietet kaum definierbare Strukturen: Unsere Seele.
Wer von Einsamkeit spricht, begibt sich in die vagen Welten der Gefühle. Empfindungen, die wir kaum objektiv messen können, sondern die wir höchst subjektiv erleben.
Damit kommen wir zu einem zweiten Problem. Denn wenn von zunehmender Einsamkeit in der Gesellschaft die Rede ist, mithin von einem Phänomen, das wirtschaftliche Folgen haben und sogar zum politischen Thema werden wird – woran sollen wir uns dann orientieren? Wie diese unscharfe Empfindung überhaupt packen?
Viele Zustände lassen sich genau bemessen. Wenn es draußen kalt ist, wissen wir, wie kalt. Wenn ein Auto schnell fährt, wissen wir, ob es gerade mit 160 oder mit 284 km/h über die Autobahn prescht. Auch wie groß eine Wohnung ausfällt, können wir exakt beziffern: 20, 50, 100 oder auch 300 Quadratmeter.
Auch wenn ein Mensch krank ist, denken wir in recht präzisen Kategorien. Der eine hat Husten, ein anderer Bluthochdruck, der nächste eine Apoplexie in der linken Gehirnhälfte. Die Art der Krankheit, ihr Ort und ihr Ausmaß: Wir sind meist in der Lage, dies sehr genau zu bestimmen und auch auszudrücken.
Schwieriger wird es schon bei Umständen, die andere Adjektive beschreiben. Wann zum Beispiel ist ein Mensch schön, wann hässlich? Oft sind es kulturell bedingte Schönheitsideale oder auch nur vorgekaute Trends, die uns hier gewisse Muster zur geschmäcklerischen Orientierung an die Hand geben. Ob dies nun gut ist oder schlecht. Doch auch hier gilt letztlich: Schönheit liegt im Auge des Betrachters.
Was jedoch geschieht, wenn jemand einsam ist? Hier tappen wir im Dunkeln. Haben keine Bemessungsgrundlage, können auf keine Größeneinheit mehr zurückgreifen. Mit der Liebe ist es ja auch so eine Sache. Denn obgleich sie uns wohl deutlich schöner steht, rational zu begreifen ist sie ebenfalls kaum, zu erforschen und zu definieren noch viel weniger. Psychologen, Dichter, Songwriter, sie alle haben sich schon den Kopf darüber zerbrochen. Einige sind dabei zu bemerkenswerten Ergebnissen gekommen, doch eine mathematisch präzise Lösung wird es wohl nie geben.
Zum Glück? Ja, zum Glück, wollen wir jetzt ausrufen! Als sei es uns nicht geheuer und am Ende auch gar nicht lieb, alles immer bis zur letzten Kommastelle bemessen zu können. Und auch bemessen zu wollen. Zu einem Problem, zumindest zu einer brisanten Lage kann es jedoch führen, wenn das, was wir Gefühle nennen, einen zunehmenden Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen hat.
Doch genau das scheint der Fall zu sein. Im Zeitalter der Daueraufregung widmet man sich darum inzwischen gezielter dem diffizilen Gebiet der Gefühlsforschung. Und die Fragen haben es in sich. Über welche Gefühle sprechen wir? Wann müssen wir von geteilten Gefühlslagen reden? Und wie beeinflussen diese am Ende eine Gesellschaft? Allein einige Begriffe, die in letzter Zeit populär geworden sind, zeigen, dass solche Gefühlslagen tatsächlich mehr und mehr auf die gesellschaftlichen und auch auf die politischen Bühnen drängen. Da sind die Wutbürger. Die Hassdemos. Die Solimärsche. Die Klimaproteste. Die Verschwörungserzählungen. Die Corona-Rebellen. Die Schmährufe zur Lügenpresse.
Wut. Hass. Solidarität. Proteste. Verschwörung. Rebellion. Lügen. All dies sind emotional stark aufgeladene Begriffe. Und genau darum kamen auf einer internationalen Konferenz erst jüngst Wisenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen, um sich mit der Frage zu beschäftigen, welche Macht solche Affekte besitzen, wie sie Politik, Medien und soziale Bewegungen beeinflussen. Dem Sonderforschungsbereich gab man den trefflichen Namen: »Affective Societies – Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Gesellschaften.«
Die Einsamkeit stand nicht auf der Liste der einschlägigen und untersuchten Sentimente. Noch nicht. Und vielleicht auch deswegen nicht, weil wir es hier mit einem äußerst flüchtigen, man könnte sagen, besonders unsichtbaren Gefühl zu tun haben.
Wie also mit dieser nebulösen Befindlichkeit umgehen? Vielleicht hilft es auch hier, zunächst nicht von der Einsamkeit zu sprechen, sondern eher von der Vereinzelung. Das Wort »vereinzelt« kommt einem bezifferbaren Zustand immerhin näher und dem Wunsch nach Quantifizierung entgegen. Die Einsamkeit ist eher ein Resultat der Vereinzelung, beschreibt wesentlicher unseren Seelenzustand, unsere Gemütsverfassung. Doch beide Begriffe sind unmittelbar miteinander verwoben, auch wenn der tägliche Sprachgebrauch das eine Wort lieber mag als das andere.
Ich fühle mich einsam. Weniger: Ich fühle mich vereinzelt. Leichter machbar ist dagegen schon diese Version: Der vereinzelte Mensch muss sich irgendwann einsam fühlen.
Gebräuchlicher ist es, die Begriffe »einsam« und »allein« zu unterscheiden. Dabei beschreibt auch das Wort »allein« eher eine objektivierbare und numerisch belegbare Tatsache, »einsam« hingegen eine subjektive Befindlichkeit.
Doch damit genug des semantischen Hickhacks. Denn eines ist am Ende unmissverständlich: Wer behauptet, dass er einsam ist oder sich einsam fühlt, dem geht es in der Regel nicht gut. Der ist allein, der ist traurig. Der fühlt sich außen vor, womöglich ausgeschlossen. Der hat nicht teil. Der fühlt sich wie das fünfte Rad am Wagen. Geduldet, überflüssig, unerwünscht. Auch zu diesem Schluss könnte er kommen: dass er nicht gebraucht wird, nicht mehr dazugehört.
Vor allem mit diesem für jeden Menschen früher oder später tragischen Zustand will ich mich in diesem Buch befassen. Also nicht mit jener Form der Einsamkeit, die der Wanderer in den Bergen sucht, der Einhandsegler auf den Ozeanen, der Sinnsucher auf der einsamen Insel oder der schöpferisch tätige Maler in der einsamen Natur.
Diese Kategorien der Einsamkeit sind grundlegend andere. In diesen Fällen ist die Einsamkeit selbstgewählt oder aufgrund bestimmter Umstände akzeptiert. Der Einsame weiß in der Regel, wann er seine Einsamkeit beenden kann, beenden wird. Er hat Kontrolle und Wissen über diesen Zustand. Auch weiß er, dass andere im Bilde sind. Er schämt sich nicht, ist meist sogar stolz auf seine wie auch immer verordnete Zeit der Entsagung und Abnabelung.
Dieser Einsame kann in der Regel sein Smartphone zücken, ruft seine Familie an, seine Freunde. Er geht runter vom Berg und ist bald wieder mitten im Leben. Zu Hause, im Job. Abends sitzt er mit Kollegen im Restaurant, um von seinem einsamen Abenteuer in geselliger Runde zu berichten.
Der andere Einsame kann genau das nicht. Seine Einsamkeit ist nicht gewählt und selbst auferlegt, sie ist unfreiwillig; kein vorübergehender und meist auch kein beeinflussbarer Zustand. Seine Einsamkeit wird zum Einsamsein. Zu einem ungewollten, zeitlich und räumlich nicht